Deutsche Gebärdensprache Wir können alles außer hören

Von: Redaktion Lernen und Wissenslab / jzw

Stand: 22.09.2023

In einem überfüllten, lauten Zug auf einer Strecke in Deutschland: Inmitten des ganzen Lärms, in dem man sein eigenes Wort nicht verstehen kann, sitzen sich zwei junge Frauen gegenüber und sprechen lebhaft miteinander – die Geräuschkulisse spielt dabei keine Rolle. Sie kommunizieren vollkommen still und verwenden dafür ihre Hände, ihre Mimik und Gestik. Nichts ahnende Außenstehende verstehen nicht, was sich diese beiden in ihrer "Geheimsprache" erzählen. Faszinierend! Was die beiden da sprechen, nennt sich Deutsche Gebärdensprache, kurz: DGS.

Collage aus gebärdenden Menschen und den Buchstaben I, L, und Y in deutschem Fingeralphabet. | Bild: Collage: WDR/René Müller, colourbox, BR

Die Deutsche Gebärdensprache ist eine visuelle eigenständige Sprache mit einer komplexen Grammatik, die ganz anderen Regeln folgt als die deutsche Laut- und Schriftsprache. Zum Beispiel gibt es in der DGS keine Zeitformen des Verbs, dies kann nur mit Beschreibungen wie "morgen" oder "gestern" ausgedrückt werden. So ist es auch in vielen anderen Gebärdensprachen (zum Beispiel im Chinesischen). In Deutschland sprechen etwa 250.000 Menschen DGS. Dazu gehören taube oder gehörlose, schwerhörige Menschen und Menschen mit Hörbehinderung. Sie sprechen DGS sogar oft als Muttersprache.

Aber warum wissen wir so wenig über Gehörlose?

Heute ist die DGS als eigenständige Sprache anerkannt; Amtssprache wie in Neuseeland, Simbabwe, Papua-Guinea oder Südkorea ist sie aber noch nicht. Obwohl die Vollwertigkeit von Gebärdensprachen durch sprachwissenschaftliche Forschungen bereits in den 1960er-Jahren festgestellt wurde, war die Deutsche Gebärdensprache in der Frühförderung und im Bildungsbereich lange verpönt. Sie galt als Kommunikationshilfe zweiter Klasse und war zeitweise sogar verboten: Hörbehinderte Kinder wurden gezwungen, das Sprechen zu lernen, um sie an die hörende Gesellschaft anzupassen. Auch heute noch wird diskutiert, ob man beispielsweise durch bilingualen Spracherwerb (Gebärden- und Lautsprache) gehörlosen Kindern den Zugang zu beiden Sprachwelten ermöglichen und erleichtern sollte. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass mit der Verwendung von beidem, Gebärden- und Lautsprache, ein vollumfänglicher Spracherwerb funktioniert.

Erst im April 2002 wurde die Deutsche Gebärdensprache durch das deutsche Behindertengleichstellungsgesetz offiziell als Sprache anerkannt. Wer erste Worte in DGS lernen möchte, findet gleich nachfolgend eine kleine Einführung mit Anke.

Die Deutsche Gebärdensprache ist eine lokale Sprache. Sie zeigt keine weiteren größeren Verwandtschaften auf, außer mit der Israelischen Gebärdensprache. Das hat den Hintergrund, dass jüdische Gehörlosenlehrer:innen und taube Schüler:innen auf ihrer Flucht nach Israel die DGS mitgenommen haben – die Schule wiederaufleben ließen und die DGS weiterverwendeten. Gebärden sind also nicht international einheitlich. Jedes Land hat seine eigene Gebärdensprache und sogar einzelne Landesregionen haben ihre unterschiedlichen Dialekte, vergleichbar mit denen der Deutschen Laut- und Schriftsprache (zum Beispiel Bairisch).

Gehörlose bildeten häufig eine kleine Gemeinschaft, daher wurde die regionale Sprachentwicklung stark von einzelnen Schulen für hörgeschädigte Kinder und sogar von einzelnen Lehrer:innen geprägt. Die erste Gehörlosenschule weltweit wurde von dem Mönch Abbé Charles-Michel de l'Epée 1770 in Paris gegründet.

Abbé Charles-Michel de l'Epée entwickelte die erste französische Gebärdensprache (Lithografie von Albert Chereau). | Bild: picture alliance / Mary Evans Picture Library

Abbé de l'Epée war mit ganzem Herzen Lehrer – und investierte dafür sein gesamtes Einkommen und Vermögen.

Es gibt aber durchaus Zeichen, die weltweit verstanden werden, die sogenannten "International Signs". Aber Vorsicht: Manche Gebärden müssen in ihrem sozio-kulturellen Kontext gesehen werden, um Missverständnisse zu vermeiden.

Aufgrund der visuellen Natur ist es möglich, einfachere Gebärden auch für jemanden verständlich zu machen, der die Gebärdensprache eines anderen Landes spricht – beispielsweise Japan. Das gilt unter anderem für die Gebärde "trinken". Eine komplexere Unterhaltung über abstrakte Themen ist aber eher nicht möglich. Durch regionale Unterschiede in der DGS kann es auch innerhalb Deutschlands zu Missverständnissen kommen.

Denn Gebärdensprache wird nicht intuitiv (auch von Hörenden) weltweit verstanden, wie es bei Pantomime der Fall wäre. Gebärdensprache muss wie jede andere (gesprochene) Fremdsprache erlernt werden. Weltweit gibt es rund 200 Gebärdensprachen und rund 70 Millionen Sprecher:innen.

Gibt es für Fremdwörter, Eigennamen oder unbekannte Begriffe noch keine Gebärden, werden diese neu entwickelt oder es wird ein Fingeralphabet herangezogen: Damit lässt sich jeder Buchstabe visuell darstellen. Im Foto, das unseren Artikel eröffnet, werden die Buchstaben I, L und Y gezeigt, was im amerikanischen Sprachraum ursprünglich für "I love you" steht. In der Gemeinschaft der Gehörlosen hat ILY aber noch weitere Bedeutungen: Ich sehe dich, ich interessiere mich für dich, ich respektiere dich ...

Infografik "Deutsches Fingeralphabet" | Bild: Lassal | www.fingeralphabet.org

Auch das Fingeralphabet ist nicht international und kann von Gebärdensprache zu Gebärdensprache unterschiedlich sein, weil sich die Fingeralphabete überwiegend am Schriftbild der jeweiligen Lautsprache orientieren. Wie bei der Gebärdensprache gibt es aber Handformen, die international weitbekannt sind. Auch Personennamen müssen nicht immer buchstabiert werden.

In Deutschland leben etwa 80.000 Gehörlose. Sie sind untereinander eng vernetzt und Teil einer eigenständigen Gehörlosenkultur. Innerhalb dieser Gebärdensprachgemeinschaft erhält jede:r ihre/seine eigene Namensgebärde, die meist ein Leben lang gleich bleibt und ein typisches – oft äußerliches – Merkmal der Person aufgreift. Auch Personen des öffentlichen Lebens und Prominente erhalten eine Namensgebärde, zum Beispiel Bundeskanzler Olaf Scholz. Sein hervorstechendstes Merkmal: die Glatze.

In einer Welt, in der Hören als normal gesehen wird, und Nichthören als Behinderung, gibt es viele Hürden zu meistern: Behördengänge, Termine bei der Bank oder beim Arzt, der Schulbesuch in einer Regelschule, eine Berufsausbildung oder der Besuch einer Universität für Hörende – das alles funktioniert nicht ohne Hilfe. Oft müssen Menschen mit Hörbehinderung lange darauf warten, dass sie von Gebärdensprachdolmetscher:innen begleitet werden können. Die Aufwendungen dafür müssen beantragt werden und das Budget ist nur begrenzt.

Wie sieht der Alltag in einer Welt aus, die ganz offensichtlich für eine hörende Mehrheit eingerichtet ist?

Es sind oft nur Kleinigkeiten, aber gerade die können den Alltag deutlich erschweren. Zum Beispiel: Aufzug fahren. Wie soll man im Notfall auf sich aufmerksam machen, wenn es nur einen Notrufknopf mit akustischem Signal und eine Gegensprechanlage ohne Kamera gibt? Nur eine Situation von vielen, in denen Menschen mit Hörbehinderung im Alltag daran gehindert werden, ganz selbstverständlich Einrichtungen zu nutzen, die eigentlich für alle da sein sollen. Da bleibt nur, das Risiko in Kauf zu nehmen, stecken zu bleiben und dann mehr oder weniger passiv auf Hilfe zu warten – oder die Treppe zu nehmen.

So etwas kann Navina, 13, aber nicht aufhalten: Sie trainiert in einem Leichtathletikverein und besucht die Tanz-AG in ihrer Schule ...

Youtube: Jung und taub

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Ich bin taub | neuneinhalb – Deine Reporter | WDR | Bild: WDR (via YouTube)

Ich bin taub | neuneinhalb – Deine Reporter | WDR

Das Land Bayern hatte 2013 das Ziel gefasst, innerhalb von zehn Jahren komplett barrierefrei zu werden – im gesamten öffentlichen Raum, im gesamten Öffentlichen Nahverkehr. Allein für das Jahr 2022 sieht der Haushaltsplan Mittel in Höhe von rund 146 Millionen Euro vor. Was hat sich konkret getan und kann das Ziel "Bayern barrierefrei" wirklich erreicht werden? Rosana, Comedienne und selbst gehörlos, war als Testerin unterwegs ...

Auch wenn der Weg zu echter Teilhabe und Gleichberechtigung von Gehörlosen und Hörenden noch weit scheint: Gebärdensprache wird auch in der Welt der Hörenden immer sichtbarer, etwa bei Kulturveranstaltungen oder im Fernsehen, auf dem Arbeitsmarkt und vor allem in den Sozialen Medien. Die junge Generation der Hörbehinderten ist selbstbewusster als früher und engagiert sich aktiv dafür, dass die Bedürfnisse ihrer Gemeinschaft sichtbar gemacht und bekannt werden.

Dabei ist die Gemeinschaft der Hörbehinderten und Gehörlosen lange nicht so homogen, wie man vielleicht denken könnte. Nicht jeder, der eine Hörbehinderung hat oder gehörlos ist, gehört automatisch zu einer Art großen, harmonischen Familie. Wer dazu zählen will, muss seinen Platz oft erst finden, manchmal sogar erkämpfen: Träger:innen von Hörprothesen, sogenannten Cochlea-Implantaten oder Taubblinde; Menschen, die außer der Hörbehinderung noch eine Sehbehinderung haben. Sehen statt Hören stellt mit Ben, Harriet, Kristin und Til vier junge Taubblinde vor, die mit großem Engagement und Herzblut dafür einstehen, dass die Community der Taubblinden innerhalb der Gebärdensprachgemeinschaft wahrgenommen und als Teil ihrer gemeinsamen Kultur integriert wird.

Menschen mit (Hör-)Behinderung unterscheiden sich nur in einem Punkt von anderen. Und der spielt oft eine größere Rolle, als er müsste. Denn Menschen mit Behinderung sind wie alle anderen vor allem vielseitige Persönlichkeiten; mit den unterschiedlichsten Begabungen und Fähigkeiten ausgestattet. Und sie wünschen sich konkrete Unterstützung und dass ihre oft sehr unterschiedlichen Bedürfnisse wahr- und ernstgenommen werden. Damit Inklusion nicht nur in einer EU-Konvention festgeschrieben bleibt, sondern normaler, gelebter Alltag werden kann. Und wenn sich das nächste Mal zwei junge Frauen im Zug unterhalten, die Deutsche Gebärdensprache miteinander sprechen? Nicht nur gucken, sondern die eigene Scheu überwinden und in Gebärdensprache einfach mal "Hallo!" sagen.

Und so geht's: Wie spreche ich Menschen mit Hörbehinderung an?

Erstkontakt:

Innerhalb Sichtweite:

  • Augenkontakt aufnehmen
  • winken

Außerhalb Sichtweite:

  • mit dem Fuß aufstampfen: die Vibration wird vom Boden übertragen
  • das Licht ein- oder ausschalten: ein gängiges Signal
  • den anderen leicht an der Schulter antippen

Und wie lerne ich Gebärdensprache?

Einen ersten Einstieg bietet beispielsweise Annalisa auf ihrem YouTube-Kanal an: Ihre Muttersprache ist die Deutsche Gebärdensprache, weil ihre Eltern beide gehörlos sind.

Wer das Gelernte vertiefen möchte, nimmt am besten an entsprechenden Kursen an Volkshochschulen, Gebärdensprachschulen oder Universitäten teil. Und natürlich durch Kontakt zu Gehörlosen selbst.

Fachbegriffe zum Thema Gebärdensprache

  • gehörlos: Als gehörlos werden Personen bezeichnet, die hörbehindert sind und vorwiegend in Gebärdensprache kommunizieren.
  • taub: Gehörlose bevorzugen manchmal auch, dass sie als taub bezeichnet werden. Wer sicher gehen möchte, fragt die Betroffenen direkt danach, was ihm/ihr am liebsten ist.
  • taubstumm: Diesen Begriff bitte aus dem Sprachschatz streichen! Personen, die gehörlos sind, kommunizieren selten mithilfe der Stimmbänder, sondern mit Gebärden. Sie sind im Sinne von wortlos also alles andere als stumm. Das Wort "stumm" lässt sich etymologisch von dem Wort "dumm" herleiten, daher werden Worte wie "stumm" und "taubstumm" diskriminierend und abwertend empfunden: Besser "gehörlos" verwenden oder fragen, welcher Begriff als angemessen empfunden wird.
  • DGS: Abkürzung für Deutsche Gebärdensprache
  • LGB: Lautbegleitende Gebärden
  • LUG: Lautunterstützende Gebärden
  • GUK: Gebärdenunterstützte Kommunikation (entspricht LUG)
  • Ableismus: Ungerechtfertigte Ungleichbehandlung wegen einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung oder aufgrund von Lernschwierigkeiten.
  • Audismus: Diskriminierung von Gehörlosen durch Hörende
  • Cochlea-Implantat: Hörprothese für Gehörlose und Ertaubte, deren Hörnerv als Teilorgan der auditiven Wahrnehmung noch funktionsfähig ist, sowie für hochgradig Schwerhörige, bei denen die Versorgung mit einem Hörgerät nicht mehr ausreichend ist. Hörprothesen können eine große Hilfe sein, müssen es aber nicht zwangsläufig, denn der Effekt fällt individuell aus. Die Entscheidung dafür oder dagegen hat oft Einfluss auf die eigene Identität und das Zugehörigkeitsgefühl – ein großes Thema in der Gemeinschaft der Menschen mit Hörbehinderungen.
  • CODA: (Children of Deaf Adults) sind Kinder, deren Eltern gehörlos sind.
  • DODA: (Deaf Children of Deaf Adults) sind gehörlose Kinder, deren Eltern gehörlos sind.
  • Pantomime: Form der darstellenden Kunst mittels Mimik und Gestik, ohne Worte.
  • Finger-Tutting: kommt aus dem Street Dance und zeigt eine Art Tanz, bei der die Finger kompliziert bewegt werden. Von Hörenden erfunden, aber auch von Gehörlosen betrieben.
  • Visual Vernicular: eine visuelle Kunstform von gehörlosen Menschen (Gebärden-Poesie), vergleichbar zur Bedeutung von Musik für Hörende.

Medienangebote für Menschen mit Hörbehinderung

  • Sehen statt Hören ist die einzige deutschsprachige Sendereihe, die mit Gebärden und Untertiteln ausgestrahlt wird. Mit Menschen und ihren Geschichten will "Sehen statt Hören" emotionale Anknüpfungspunkte und Momente zur Identifikation schaffen – in einer sichtbaren, vielfältigen, bunten, barrierefreien und inklusiven Gesellschaft. Jeden Samstag um 9 Uhr im BR Fernsehen und jederzeit in der ARD Mediathek.
  • Hand drauf ist ein Angebot von funk für die Deaf Community in Deutschland auf YouTube und Instagram. Die gehörlosen Hosts bereiten jede Woche eine andere Themenfrage auf und bieten damit einen Mix aus Information und Orientierung. Kurz, knackig und für alle verständlich.
  • Taubenschlag ist eine Website für Taube und Schwerhörige, aber auch für Hörende. Hier gibt es Insider-Informationen und Einblicke in die Welt der Hörgeschädigten und verschiedene Serviceangebote.