ARD Themenwoche: Wir gesucht – was hält uns zusammen? Gemeinsam individuell: Wie Inklusion gelingt

Von: jzw

Stand: 02.11.2022

Wenn Menschen mit und ohne Behinderung nicht zusammenkommen, stecken häufig mangelnde Gelegenheiten dahinter, oft aber auch Berührungsängste. Wie spricht man beispielsweise jemanden an, der nicht hören kann? Den einzigen Fehler, den man dabei machen kann: es gar nicht erst zu versuchen.

Gruppenbild mit Menschen mit und ohne Behinderung, mit Raúl Krauthausen erste Reihe rechts. | Bild: Andi Weiland | sozialhelden.de

Menschen mit Behinderung sollen genauso an allem teilhaben können wie Menschen ohne Behinderung, schreibt das Recht auf Inklusion in einer UN-Konvention seit 2008 vor. In der Realität gilt es bei der Umsetzung allerdings noch einige Hürden zu bewältigen.

Glücklicherweise gibt es auf diesem Weg nicht nur Hindernisse, sondern vor allem Menschen, die den Willen haben, Hürden zu überwinden und die Situation zum Besseren zu verändern. Häufig sind diese Menschen selbst betroffen. So wie Rita Ebel aus Hanau: Weil sie gerne einkaufen geht, aber als Rollstuhlfahrerin oft an Türschwellen scheiterte, beginnt sie 2020, Rampen aus Legosteinen zu bauen. So einfach, so genial, so effektiv! Rita Ebels Idee wird begeistert aufgegriffen und findet seither zahlreiche Nachahmer:innen und Unterstützer:innen auf der ganzen Welt. Die Rollstuhlrampen aus Legosteinen sind aber nicht nur vor allem praktisch, sondern sogar wahre Kunstwerke – alles zum Entdecken und Bestaunen auf der Instagram-Seite der "Lego-Oma".

😍 👍

Instagram-Vorschau - es werden keine Daten von Instagram geladen.

die_lego_oma

Instagram-Beitrag von die_lego_oma | Bild: die_lego_oma (via Instagram)

Wenn Menschen im Alltag nicht zusammenkommen, liegt es aber vermutlich weniger an fehlenden Rampen, sondern vor allem an Berührungsängsten. Wie geht man auf Menschen mit Behinderung zu? Soll man Hilfe anbieten, wenn im Supermarkt die Ware auf dem obersten Regal unerreichbar scheint oder nicht? Tritt man in ein Fettnäpfchen oder beschämt die andere Person sogar? Unsicherheit durch Unwissenheit. Aber dagegen lässt sich etwas tun. Zunächst einmal sollte die Frage geklärt werden, was man überhaupt unter einer Behinderung versteht.

Was ist eine Behinderung?

Das Thema Behinderung geht uns alle an: Weltweit gibt es rund eine Milliarde Menschen mit einer Behinderung, das sind 15 Prozent der Weltbevölkerung. In Deutschland hat jeder 10. eine schwere Behinderung, und es werden immer mehr, denn in unserer Gesellschaft wird der Anteil alter Menschen seit Jahren größer. Behinderungen werden oft erst im Laufe des Lebens erworben, etwa durch eine Krankheit oder einen Unfall. Eine Behinderung kann aber nicht nur körperlich sein oder die Sinne und Sprache betreffen. Sie kann auch seelisch oder psychisch sein – und ist damit nicht unmittelbar sichtbar.

Behinderungen beschränken die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und genau das soll und darf nicht sein:

"Inklusion" bedeutet, dass jeder Mensch dazugehört und überall dabei sein kann. Auch Menschen mit Behinderung sollen von Anfang an selbstbestimmt, gleichberechtigt und uneingeschränkt am sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilhaben.

Menschen mit Behinderung: Zahlen und Fakten

Selbstverständliche Gleichberechtigung und Teilhabe für alle: Das klingt wunderbar, traumhaft! Aber wie ist das in der Realität: Wie sieht der Alltag für Menschen mit Behinderung aus?

Gelebte Inklusion

Damit Menschen mit und ohne Behinderung überhaupt die Gelegenheit bekommen, zusammenzutreffen, braucht es manchmal jemanden, der sie bewusst zusammenbringt. Zum Beispiel Jannis. Der 26-Jährige ist gehörlos und hat einen Herzenswunsch: Er möchte einen Bauernhof für hörende und hörbehinderte Kinder und Jugendliche gründen, damit alle an einem Ort leben, spielen und gemeinsame Erfahrungen machen können. Der erste Schritt dazu: Jannis will Erzieher werden. "Sehen statt Hören" stellt den jungen Visionär vor, der mit seiner Begeisterung andere ansteckt.

Gemeinsamkeiten schaffen

Herzlichen Glückwunsch: Im Juni 2022 hat Jannis seine Ausbildung zum staatlich anerkannten Erzieher erfolgreich abgeschlossen. Seinem Traum vom inklusiven Kinderbauernhof ist Jannis damit einen großen Schritt nähergekommen. Startschwierigkeiten, widrige Umstände: alles Dinge, von denen Jannis sich nicht hat aufhalten lassen. Überhaupt sind es nicht die äußeren Faktoren, die Menschen mit Behinderung "behindern".

Inklusion beginnt im Kopf

"Die Barriere in den Köpfen ist die größte Barriere", weiß Raúl Aguayo-Krauthausen. Dem Aktivisten und Experten für Inklusion und Barrierefreiheit ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass eine Behinderung nur eine von vielen Eigenschaften ist, die einen Menschen ausmachen. Gemeinsam mit Freunden hat er 2004 "Sozialhelden e.V." (siehe Titelbild) gegründet: einen gemeinnützigen Verein und ein kreatives Netzwerk von Freiwilligen, um Menschen mit Behinderung das Leben leichter zu machen. Zum Beispiel mithilfe von "Wheelmap": Auf einer Karte können Rollstuhlfahrer:innen und Menschen mit anderen Mobilitätseinschränkungen online nachschauen und bewerten, wie gut zugänglich Orte, Gebäude, Bahnhöfe, etc. sind. Mit fast zwei Millionen Markierungen in mehr als 25 Sprachen ist sie mittlerweile die weltweit größte Karte speziell für barrierefreie Orte und ist damit das größte Projekt der Welt zu diesem Thema.

Raul Krauthausen | Bild: picture-alliance/dpa

Raúl Aguayo-Krauthausen hat die sogenannte "Glasknochenkrankheit", ist kleinwüchsig und nutzt einen Rollstuhl.

Ob die Lego-Rampen von Rita Ebel, die inklusive Begegnungsstätte von Jannis oder die "Wheelmap" der Sozialhelden: Allen ist klar, dass Inklusion kein Selbstläufer ist und dass mit Schwierigkeiten und Rückschlägen zu rechnen ist. Da ist auf jeden Fall Kreativität gefragt. Aber vor allem die Bereitschaft und der Wille, neue Wege auszuprobieren und sich nicht entmutigen zu lassen. Denn, um es mit Albert Camus zu sagen: Wer etwas will, findet Wege. Wer etwas nicht will, findet Gründe.

Und was kann ICH jetzt tun?

Die Antwort ist einfach: Zunächst mal auf Menschen mit Behinderung zugehen, wie auf andere Menschen auch – also ganz normal. Und (erst) helfen, wenn danach gefragt wird. Menschen mit Behinderung unterscheiden sich nur in einem Merkmal von anderen, nämlich durch eine oder mehrere Beeinträchtigungen ihrer Gesundheit. Sie haben ansonsten wie alle anderen Menschen die unterschiedlichsten Begabungen und Fähigkeiten und möchten genau so gesehen und anerkannt werden. Damit in unserer Gesellschaft noch mehr Raum geschaffen wird für Vielfalt, Rücksicht und echtes Miteinander.

Inklusion ist nicht nur eine gute Idee, sondern ein Menschenrecht. Die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung sollten ernst genommen und berücksichtigt werden, damit Inklusion nicht nur in einer EU-Konvention festgeschrieben steht, sondern normaler und gelebter Alltag werden kann. Inklusion bedeutet: Es ist normal, unterschiedlich zu sein. Und, es ist gut, unterschiedlich zu sein.

Begriffe aus den Videos und dem Artikel

  • Gehörlosigkeit: Als gehörlos werden Personen bezeichnet, die hörbehindert sind und vorwiegend in Gebärdensprache kommunizieren.
  • CHARGE-Syndrom: eine Hauptursache für angeborene Hörsehschädigungen; betrifft mehr Körperbereiche als nur Ohren und Augen.
  • Karin Kestner: war eine deutsche Gebärdendolmetscherin und Verlegerin. Sie engagierte sich vor allem für die Verbreitung der Deutschen Gebärdensprache und für die Rechte von gehörlosen Kindern und ihren Eltern. Karin Kestner (1956-2019) erhielt für ihr Engagement 2017 das Bundesverdienstkreuz.
  • Behinderung: Als Behinderung bezeichnet man körperliche Behinderungen, eine Behinderung der Sinne, eine Behinderung der Sprache, eine seelische oder psychische Behinderung, oder eine Lernbehinderung.
  • Schwerbehinderung: Ab einem Behinderungsgrad von 50 spricht man von einer Schwerbehinderung.
  • Behinderungsgrad: Der Grad der Behinderung (GdB) beziffert die Schwere einer Behinderung. Er ist also ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens.
  • Behinderter Mensch: ist eine irreführende Bezeichnung, weil ein Mensch eine Behinderung haben oder auch behindert werden kann. Man spricht daher besser von Mensch mit Behinderung.
  • Handicap: Ein "Mensch mit Handicap" lenkt den Blick darauf, dass der Mensch ein Defizit hat. Ein "Mensch mit Behinderung" hat viele Eigenschaften und eine davon ist eine Behinderung. Deswegen besser "Mensch mit Behinderung" verwenden.
  • Inklusion: Wenn jeder (!) Mensch dazugehört und überall dabei sein kann. Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und bedeutet wörtlich übersetzt "Miteinbezogensein", "Einschluss", "dazu gehören".
  • Integration: Menschen mit Behinderung werden (nur) dabei unterstützt, damit sie an der auf Menschen ohne Behinderung zugeschnittenen Welt (mehr oder weniger) teihaben können.
  • Barrierefreiheit: Gebäude und öffentliche Plätze, Arbeitsstätten und Wohnungen, Verkehrsmittel und Gebrauchsgegenstände, Dienstleistungen und Freizeitangebote werden so gestaltet, dass sie für alle Menschen ohne fremde Hilfe zugänglich sind.


Info zu den Videos
"Sehen statt Hören" ist die einzige deutschsprachige Sendereihe, die mit Gebärden und Untertiteln ausgestrahlt wird. Hier stehen die Themen des gesamten Zeitgeschehens im Mittelpunkt: von Kultur über Menschen bis Sport und Wissen. Jeden Samstag um 9 Uhr im BR Fernsehen und jederzeit in der ARD Mediathek.

"RESPEKT" | Demokratie einfach erklärt: Wir leben in einer Demokratie, aber verhalten wir uns immer demokratisch? Oft kommen Respekt und Toleranz im Alltag zu kurz. Was können wir dagegen tun? "RESPEKT" beschäftigt sich mit den demokratischen Werten und den Menschen unserer Gesellschaft: jeden Sonntag um 19.30 Uhr auf ARD alpha und jederzeit in der ARD Mediathek.