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Zeugenaussagen Die schwierige Wahrheitsfindung vor Gericht

Zeugenaussagen sind für die Wahrheitsfindung vor Gericht oft wichtig. Doch ob eine Aussage korrekt ist oder nicht, ist nicht immer einfach herauszufinden. Verschiedene Anhaltspunkte gibt es zwar, Probleme bleiben trotzdem.

Von: Daniela Remus, Sylvaine v. Liebe

Stand: 18.02.2021

Zeugen im Gerichtssaal: Die Wahrheitsfindung vor Gericht ist oft schwierig. Im Bild: Ein Belastungszeuge verdeckt neben seinem Verteidiger Burkhard Benecken sein Gesicht in einem Gerichtssaal im Oberlandesgericht Celle im Jahr 2018.  | Bild: picture alliance/dpa/ Foto: Holger Hollemann

Ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht, spielt insbesondere vor Gericht eine entscheidende Rolle. Bei Augenzeugen, die das Geschehen mehr oder weniger unmittelbar erlebt haben, sind aber nicht nur Lügen für Juristen und Gerichtspsychologen ein Problem. Auch ergänzende Schilderungen der Zeugen, die über Gedächtnislücken oder gar nicht Erlebtes hinwegtäuschen sollen, müssen sie richtig einordnen können.

Helfen können dabei Befragungstechniken, aber auch das Heranziehen von Faktoren, die die Aussage des Betroffenen vor Gericht beeinflusst haben könnten. Trotzdem fällt die Wahrheitsfindung vor Gericht oft schwer. Insbesondere ist dies laut Experten bei suggestiv erzeugten Scheinerinnerungen der Augenzeugen der Fall.

Wormser Missbrauchsskandal - "Supergau der Justiz" und die Folgen

Welche fatalen Folgen der falsche Umgang mit Zeugen haben kann, hat der Wormser Missbrauchsprozess aus den 1990er-Jahren gezeigt. 25 Personen waren damals wegen des Missbrauchs an 17 Kindern angeklagt worden. Nach vier Jahren endete der Prozess mit einem Freispruch für alle Angeklagten.

Dass es dazu kommen konnte, lag laut Experten daran, dass die Zeugenaussagen aufgrund von suggestiven Aufdeckungsversuchen von Sozialarbeitern, Psychologen und Juristen entstanden sind. Je länger der Prozess dauerte, desto verworrener und offenkundig unglaubwürdig wurden die Vorwürfe, sodass ein Freispruch folgen musste.

Auf diesen "Supergau der Justiz" reagierte der Bundesgerichtshof (BGH) 1999 mit einem Grundsatzurteil. Seither gilt der "Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung", das heißt: Das Gericht entscheidet über das Ergebnis der Beweisaufnahme in eigener Verantwortung - mit entsprechenden Spielräumen.

Die Bedeutung von Zeugenaussagen im Gerichtsprozess

Weil Zeugen für die Aufklärung eines Sachverhalts eine wichtige Rolle spielen, müssen sie - außer bei bestehendem Zeugnisverweigerungsrecht - vor Gericht aussagen und die Wahrheit sagen. In der Sprache der Juristen sind Zeugen "Beweismittel".
Welchen Wert dieses "Beweismittel" - also die Zeugenaussage - für die Entscheidung des Gerichts später hat, entscheidet der Richter.

"Der Richter, der am Schluss das Urteil trifft, muss die Glaubhaftigkeit des Zeugen beurteilen. Das heißt, er muss überprüfen, ob das, was der Zeuge gesagt hat, zu dem sonstigen Prozessstoff passt, ob die Aussage des Zeugen auch zu den sonstigen Beweismitteln passt."

Barbara Stockinger, Richterin am Oberlandesgericht München

De Verarbeitung von Eindrücken beeinflusst das Gedächtnis

Ob eine Zeugenaussage den wahren Geschehensverlauf wiedergibt oder nicht, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Laut der Leipziger Aussagepsychologin Melanie Erhardt ist dafür zum Beispiel entscheidend, wie lange der Vorfall zurückliegt, wie oft der Zeuge darüber nachgedacht oder mit jemandem darüber gesprochen hat. Oder in welcher Stimmung der Zeuge zum Zeitpunkt des Geschehens war. Grund dafür ist die Flexibilität unseres Gehirns. Jeder Eindruck und jede Erkenntnis beeinflusst nach Erkenntnissen von Wissenschaftlern unser Gedächtnis. Entsprechend wenig verlässlich können Erinnerungen sein.

"Erinnerungen an sich sind individuelle kognitive Leistungen, also die sind unfassbar fehleranfällig, die verzerren sich über die Zeit, die entwickeln sich weiter oder die zerfallen wieder."

Melanie Erhardt, Psychologin und Gutachterin in Leipzig

Der besondere Zeuge: der Knallzeuge

Erinnerungen von Zeugen sind also oft fehler- oder lückenhaft. Gedächtnislücken oder gar nicht gesehene Geschehnisse werden dann nicht selten von Augenzeugen ergänzt, sodass ihre Aussage vor Gericht eine plausible Geschichte ergibt. Juristen sprechen in Fällen solcher Zeugenaussagen von sogenannten "Knallzeugen". Die gibt es nicht nur bei Autounfällen, bei denen die Zeugen den Zusammenstoß der Fahrzeuge nur gehört, aber nicht gesehen haben, sondern in allen möglichen Zusammenhängen. Das Dazudichten von tatsächlich nicht selbst Beobachtetem passiert dabei nicht einmal immer bewusst, weil unser Gehirn darauf ausgerichtet ist, Geschichten sinnvoll zu ergänzen.

Wenn der Zeuge oder die Zeugin selbst auch Opfer ist

Ganz anders ist die Situation, wenn ein Zeuge selbst Opfer ist. Hier muss das Opfer in der Regel nichts ergänzen. Wer selbst Opfer eines Verbrechens geworden ist, "da werden sich ganz viele andere Details, wie Aussehen des Täters, Tatmittel in unser Gedächtnis einbrennen", sagt Dietmar Heubrock, Professor für Aussagepsychologie und Leiter des Instituts für Rechtspsychologie an der Universität Bremen. Es sei denn, das Opfer befand sich in einer Ausnahmesituation. Das hat ganz andere Folgen auf sein Erinnerungsvermögen.

"Ausnahme ist: Die Zeugin, der Zeuge ist so traumatisiert, dass es durch den Einfluss von Stresshormonen, insbesondere Cortisol, zu einer kompletten Blockade kommt und die Blockade durch Cortisol dazu führt, dass eine langfristige Speicherung des gerade Erlebten gar nicht stattfinden kann."

Dietmar Heubrock, Professor für Aussagepsychologie und Leiter des Instituts für Rechtspsychologie an der Universität Bremen

Beurteilung von Zeugenaussagen - für Juristen oft schwierig

Einzuschätzen, ob ein Zeuge vor Gericht die Wahrheit sagt oder nicht, lernen Juristen nicht ausdrücklich während ihres Studiums. Viele verlassen sich bei ihrer Entscheidung auf ihren "gesunden Menschenverstand", andere machen Fortbildungen, wieder andere ziehen - besonders in sensiblen Bereichen wie Kindesmissbrauch - Gutachter hinzu.

Zeugenaussagen: Tipps zu Befragungstechniken

Bei der Befragung von Zeugen gibt Svenja Haußner, Diplom Psychologin, die an der Stiftung Rehabilitation Hochschule (SRH) in Heidelberg angehende Aussagepsychologen unterrichtet, Juristen für die Befragung von Zeugen folgenden Tipp: Den Zeugen möglichst zu einem freien Bericht anregen, bei Fragen nicht suggestiv fragen und dem Zeugen keine Antworten in den Mund legen.

Und der Bremer Rechtspsychologe Dietmar Heubrock warnt:

"Wenn der Vernehmungsbeamte ziemlich früh fragt: War der Täter eher groß oder eher klein? [Dann denkt der Zeuge:] Aha, es geht um Größe und es gibt nur groß oder klein. Dann wird taktisch überlegt: Mittelgroß, da machst du nichts falsch. Das ist eine taktische Erinnerung, aber nichts, was der Zeuge aus seiner Erinnerung abruft."

Dietmar Heubrock, Rechtspsychologe

Evaluierung von Zeugenaussagen: Maßnahmenkatalog soll helfen

Nach dem Wormser Missbrauchsskandal und dem Urteil des BGH haben Aussagepsychologen und Rechtspsychologinnen wissenschaftlich evaluierte Kriterien entwickelt, mit denen sie Zeugenaussagen auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersuchen. Mit den 19 darin aufgeführten Merkmalen soll sichergestellt werden, dass Gutachter einheitliche Qualitätsmerkmale anwenden, um Zeugenaussagen zu prüfen.

Wann ist eine Zeugenaussage also wahr? "Zentrale Kernaspekte [der Geschichte] müssen gleichbleiben, drumrum in der Rahmenhandlung, da können sich Unterschiede ergeben, das ist ganz normal", sagt dazu Melanie Erhardt, Psychologin in Leipzig. Gutachter sagen auch: Lügner sind oft daran zu erkennen, dass sie auf Ausschmückungen verzichten und eher konzentriert und stringent erzählen.

Meist gelingt es den Gutachtern, anhand methodisch-systematischer Überprüfung des Gesagten festzustellen, ob eine Aussage absichtlich erfunden worden oder ob sie authentisch ist. Nur suggestiv erzeugte Scheinerinnerungen seien laut Günter Köhnken, Rechtspsychologe in Kiel, schwer zu unterscheiden von authentischen Erinnerungen. Das liege daran, dass die betreffende Person fest davon überzeugt sei, das Geschilderte tatsächlich erlebt zu haben, sagt auch Dietmar Heubrock, Leiter des Instituts für Rechtspsychologie in Bremen.

"Was wir bis heute nicht können, [ist,] eine erlebnisfundierte Aussage, also einen Bericht darüber, was ein Zeuge oder eine Zeugin erlebt hat, von einer suggerierten Aussage zu unterscheiden."

Dietmar Heubrock, Rechtspsychologe

Besonders Kinder sind anfällig für solche Aussagen. Wenn man ihnen vorgebe, dass sich etwas zugetragen habe, was sich in Wirklichkeit nicht zugetragen habe, so Rechtspsychologe Heubrock, integrierten sie das in ihr Gedächtnis als eigene Erinnerung.


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