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Literarische Texte Was ist Lyrik?

Author: Dr. Tabea Kretschmann

Published at: 16-11-2016

Hier beantworten wir folgende Fragen:

  • Was ist Lyrik?
  • Was sind die Merkmale von Lyrik?

Was ist eigentlich Lyrik genau? Um dies zu beantworten, sehen wir uns zunächst ein Gedicht von Rainer Maria Rilke (1875-1926), einem der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker der Moderne, genauer an.

Blaue Hortensie

So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
hinter den Blütendolden, die ein Blau
nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.

Sie spiegeln es verweint und ungenau,
als wollten sie es wiederum verlieren,
und wie in alten blauen Briefpapieren
ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;

Verwaschnes wie an einer Kinderschürze,
Nichtmehrgetragnes, dem nichts mehr geschieht:
wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze.

Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen
in einer von den Dolden, und man sieht
ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.

(Rainer Maria Rilke: Neue Gedichte, Frankfurt/M., Leipzig, 2006)

Blaue Hortensie

Wie beschreibt Rainer Maria Rilke die blaue Hortensie? Es fällt auf, dass Rilke keine möglichst exakte und präzise botanische Beschreibung einer blauen Hortensie liefert. Diese würde sich wohl eher so anhören wie der Beginn des Wikipedia-Eintrags zu Hortensien:


"Die Hortensien (Hydrangea) sind eine Pflanzengattung in der Familie der Hortensiengewächse (Hydrangeaceae). Sorten einiger ihrer Arten sind beliebte Ziersträucher. Die in Mitteleuropa bekannteste darunter ist die Gartenhortensie.
Das Auffällige in ihren Blütenständen sind weniger kleine fruchtbare Blüten als vielmehr unfruchtbare Schaublüten mit großen, farbigen oder weißen Kelchblättern, die am Rand des Blütenstandes stehen; bei den Zuchtformen der Gartenhortensie haben alle Blüten vergrößerte Kelchblätter und sind unfruchtbar ..."

Wikipedia

Rilke beschreibt zwar auch "Blätter" und "Blütendolden" einer Hortensie – allerdings konzentriert er sich auf die Farben der Blätter und Dolden zu einem bestimmten Zeitpunkt der Betrachtung. Er beschreibt die farblichen Eindrücke mit Vergleichen ("So wie das letzte Grün in Farbentiegeln / sind diese Blätter"; "wie in alten blauen Briefpapieren / ist Gelb in ihnen, Violett und Grau") oder gar in einer Art "Tätigkeitsbeschreibung" ("die ein Blau / nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln. Sie spiegeln es verweint und ungenau, / als wollten sie es wiederum verlieren").

Die blauen Blütendolden wirken auf das lyrische Ich – so nennt man den "Sprecher" in einem Gedicht – wie "Verwaschnes wie an einer Kinderschürze, / Nichtmehrgetragnes, dem nichts mehr geschieht" – das lyrische Ich scheint zu spüren, dass die Blüte zu welken und zu vergehen droht ("wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze."). Am Ende entdeckt das lyrische Ich jedoch junge Triebe und Blüten, die mit neuer Frische aus der Hortensie hervorbrechen ("Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen / in einer von den Dolden, und man sieht / ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.").

Bis hierher lässt sich also feststellen, dass Rilke die Hortensie nicht objektiv, in ihrer (botanischen) Beschaffenheit beschreibt. Vielmehr beschreibt er eine blaue Hortensie in der subjektiven Wahrnehmung durch und Wirkung auf ein lyrisches Ich. Bei Rilkes Blauer Hortensie handelt es sich damit um keinen Sachtext – sondern um einen "lyrischen Text", in dem aus subjektiver Perspektive und mit einigen sprachlichen "Kunstkniffen" etwas beschrieben wird.

Darüber hinaus weist der Text jedoch noch weitere Besonderheiten auf: Und zwar ist er als Gedicht gestaltet. Was aber macht den Text eigentlich zu einem Gedicht?

Beim Lesen des Gedichts fallen folgende Merkmale auf:
Der Text

  • ist relativ kurz
  • ist in Verse aufgeteilt (= Zeilen mit Zeilenumbrüchen am Ende)
  • besteht aus Strophen (= "Zeilenbündel", die durch Leerzeilen getrennt werden) à zwei Mal vier und zwei Mal drei Versen
  • ist also als Sonett gestaltet (das eben aus zwei Mal vier und zwei Mal drei Verszeilen besteht)
  • enthält Reime (z. B. Farbentiegeln/spiegeln; rauh/blau/ungenau/grau), die sogar in einer bestimmten regelmäßigen Reihenfolge auftreten
  • ist in einem dominanten Rhythmus pro Verszeile verfasst, mit regelmäßigen Wechseln aus betonten und unbetonten Silben (z. B. sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh)
  • Die Sätze entsprechen nicht unbedingt der "normalen" Satzstellung (z. B.: "So wie das letzte Grün in Farbentiegeln sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh.").
  • Und auch die Ausdrucksweise ist außergewöhnlich, etwa durch die oben schon erwähnten Vergleiche oder durch die Verwendung und Neuschöpfung besonderer Worte ("Nichtmehrgetragnes"). Man spricht hier auch von einem "foregrounding" der Sprache beziehungsweise des Sprachmaterials: Die Sprache wird bewusst ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.

Die hier genannten Auffälligkeiten entsprechen den Kernmerkmalen, die viele Gedichte kennzeichnen. So handelt es sich auch bei Rilkes "lyrischem Text" um ein Gedicht, in dem eine blaue Hortensie aus subjektiver Perspektive formal, sprachlich und inhaltlich kunstvoll beschrieben wird.

Die oben genannten Merkmale können dabei als eine erste, grobe Checkliste für andere Texte verwendet werden, um sie der Lyrik als literarischer Gattung zuzuordnen. Im Unterschied zu den beiden anderen "Großgattungen" Epik und Dramatik sind Gedichte immer in Versen geschrieben und relativ kurz (letzteres ist auch das zentrale Unterscheidungskriterium zur Abgrenzung etwa von langen "Versdramen" wie Lessings "Nathan der Weise", die der Dramatik zugeordnet werden, und langen "Versepen" wie dem "Nibelungenlied", die der Epik zugeordnet werden).

Diese Gestaltungselemente treten aber keineswegs immer vollständig auf und können auch auf unterschiedlichste Weise realisiert werden. Dem Einfallsreichtum der Dichter sind dabei kaum Grenzen gesetzt.

Die Vielfalt von Gedichten ist fast grenzenlos: So gibt es etwa ganz verschiedene Untergattungen von Gedichten, die nach formalen Merkmalen (z. B. Sonett, Ode, Ballade, Lied), inhaltlichen Gesichtspunkten (z. B. Naturgedichte, Liebeslyrik, Scherzgedichte), sprachlichen Aspekten (z. B. Mundartlyrik) oder sozialen Kontextkriterien (z. B. Gelegenheitslyrik) klassifiziert werden.

Zudem gibt es Gedichte ohne Reim, festen Rhythmus oder Stropheneinteilungen – die Unterteilung in Verse bleibt dann das einzige Element, das einen solchen Text noch als der Lyrik zugehörig erscheinen lässt.

Übrigens gehören auch Slam Poetry und Songtexte zur Lyrik. Den meisten ist gar nicht bewusst, wie oft sie eigentlich im Alltag mit Lyrik zu tun haben.

1.

Zu denken, dass ein Gedicht immer gereimt sein oder in Strophen gegliedert sein muss.

2.

Nicht zu erkennen, dass Lieder und Slam Poetry ebenfalls zur Lyrik gehören.

Merkmale von Lyrik

  • Gestaltung in Versen
  • relativ kurze Verstexte
  • präziser Ausdruck und ökonomische Sprachverwendung
  • intensive Gestaltung von Sprache ("foregrounding")
  • ggf. Strophen
  • häufig Reime und regelmäßiger Rhythmus
  • häufig Einsatz rhetorischer Gestaltungsmittel (z. B. Anapher, Alliteration, Metapher)
  • häufig Veränderung der "normalen" Satzstellung

Jonathan Culler: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung, Stuttgart 2013, Kapitel 5: Rhetorik, Poetik und Lyrik
Stefan Neuhaus: Grundriss der Literaturwissenschaft, Tübingen, 4. überarb. u. erw. Aufl., 2014, Kapitel 2: Lyrische Texte