84

Mount Everest Waren Mallory und Irvine die Erstbesteiger?

Edmund Hillary und Tenzing Norgay erklommen 1953 den Gipfel des Mount Everest. George Mallory und Andrew Irvine hatten sich aber bereits 1924 dorthin aufgemacht. Waren sie in Wirklichkeit die Erstbesteiger des höchsten Berges der Welt?

Von: Linus Lüring

Stand: 21.12.2023

1924 verschwanden am Mount Everest die britischen Bergsteiger George Mallory und Andrew Irvine. Hatten sie es bis ganz nach oben geschafft? Waren sie vor Edmund Hillary und Tenzing Norgay auf dem höchsten Gipfel der Welt? Fand damit die Erstbesteigung des vielleicht schon 1924 statt - und nicht erst 1953?

Mai 1999: Suche auf dem Mount Everest nach George Mallory und Andrew Irvine

George Mallory und Andrew Irvine brachen im Juni 1924 zur Gipfelbesteigung des Mount Everest auf. Das ist das letzte Foto von ihnen.

Im Mai 1999 sind fünf Bergsteiger auf über 8.000 Metern unterwegs, um eines der größten Rätsel der Bergsteiger-Geschichte zu lösen: Die Suchexpedition auf dem Mount Everest will George Mallory, Andrew Irvine und ihre Kamera finden. Laut Herstellerfirma könnte der Film noch entwickelt werden. Fotos, die Mallory und Irvine auf dem Gipfel des Mount Everest zeigen, wären der endgültige Beweis, dass die beiden als erste auf dem Gipfel waren. Im Basislager, 3.000 Meter weiter unten, beobachtet ein 27-jähriger deutscher Geologiestudent die Suchmannschaft mit einem Teleskop und dirigiert sie über Funk: Jochen Hemmleb hat die Suchexpedition mitinitiiert und -organisiert. Hemmleb ist Geologe, Autor und Bergsteiger.

Jochen Hemmleb erforscht Geschichte der Erstbesteigung des Mount Everest

Jochen Hemmleb 1999

Jochen Hemmleb wurde am 13. August 1971 in Bad Homburg geboren. Er studierte in Frankfurt am Main Geologie und beschäftigt sich seit vielen Jahren ausgiebig mit der Expedition auf den Mount Everest von 1924. Hemmleb wertete Fotos und Berichte dazu aus - und definierte ein Gebiet, in dem er Spuren von George Mallory und Andrew Irvine vermutete. Damals gab es keine festen Routen auf den Mount Everest. Welchen Weg Mallory und Irvine Richtung Gipfel genommen hatten, war lange unklar.

George Mallory und Andrew Irvine

George Mallory

George Mallory galt als bester britischer Bergsteiger seiner Zeit. Er war bereits bei zwei anderen Expeditionen zum Gipfel des Mount Everest dabei, 1921 und 1922. 1924, bei seinem dritten Versuch, war er 38 Jahre alt. Ein Lehrer, der als intellektuell und künstlerisch begabt galt. Gleichzeitig ein Stratege, der die Besteigung des Mount Everest genau durchdachte.

George Mallory, der schlanke Bergprofi, wählte den 22-jährigen Andrew Irvine als seinen Begleiter aus.

Andrew Irvine

Andrew Irvine soll durchtrainiert und abenteuerlustig gewesen sein - aber nahezu keine Bergerfahrung gehabt haben.

"George Mallory war ein Planer, ein Visionär, ein Träumer. Aber auch jemand, der eine Tendenz hatte, vergesslich zu sein. Da war Andrew Irvine eine wunderbare Ergänzung: Der war der Pragmatiker, der sich mit den ganzen technischen Aspekten des Sauerstoffgerätes auskannte. Der das reparieren konnte, der basteln und improvisieren konnte."
Jochen Hemmleb, Geologe und Everest-Experte

Juni 1924: Mallory und Irvine starten zum Gipfel des Mount Everest

So sah das Expeditionsteam von 1924 aus: mit Anzug und Einstecktuch auf dem Mount Everest. Stehend von links: Andrew Irvine und George Mallory.

75 Jahre zuvor, im Juni 1924, versuchte George Mallorys zum dritten Mal, den Gipfel des Mount Everest zu erklimmen - nun mithilfe von Sauerstoffflaschen. Lange hatte er sie abgelehnt, aber in mehr als 8.000 Metern Höhe sind in der Luft etwa zwei Drittel weniger Sauerstoff als auf Meereshöhe enthalten. Doch die Sauerstoffflaschen waren unzuverlässig, unhandlich und eine "verfluchte Last beim Klettern", wie Mallory schrieb. Am 6. Juni 1924 waren die Vorbereitungen abgeschlossen, Mallory und Irvine machten sich auf den Weg zu Lager 5, dem vorletzten vor dem Gipfel des Mount Everest. Ein letztes Foto zeigt sie mit der monströsen Sauerstoffausrüstung auf dem Rücken. Sie seien entschlossen und zuversichtlich gewesen, aber körperlich nicht in Topform, weiß Jochen Hemmleb:

"Beide Bergsteiger waren nicht optimal fit: Mallory hatte wenige Tage vorher schon einen Versuch unternommen, der im Lager 5 gescheitert war. Irvine hat sehr unter Sonnenbrand gelitten. Also sie waren körperlich sicherlich nicht in Bestform."

Jochen Hemmleb, Geologe und Everest-Experte

Mallory und Irvine brechen spät zur letzten Etappe auf

Einen Tag später kamen sie in Lager 6 an. Das Wetter war gut, Mallory verfasste noch eine Nachricht an den Fotografen der Expedition: "Wir brechen morgen wahrscheinlich früh auf, damit wir klares Wetter haben. Ab 8 Uhr können Sie nach uns Ausschau halten. Entweder durchqueren wir dann das Felsband unterhalb der Gipfelpyramide oder wir steigen auf dem Grat nach oben. Grüße, Ihr George Mallory." Wann die beiden am 8. Juni 1924 tatsächlich aufbrachen, weiß man nicht. Im Zelt wurden ihre Magnesiumfackeln und Taschenlampen gefunden - wahrscheinlich starteten sie erst nach Sonnenaufgang, irgendwann zwischen 5 und 7 Uhr. Auch Teile der Sauerstoffausrüstung ließen sie zurück - vielleicht gab es mit ihr Probleme.

Mallory und Irvine werden beobachtet

Während die beiden von Lager 6 aus Richtung Gipfel des Mount Everest stiegen, wurden sie von Noel Odell gesehen, einem Geologen, der die Gesteinsformationen am Mount Everest untersuchte: Er schaute gegen 12.50 Uhr Richtung Gipfel und entdeckte Mallory und Irvine kletternd an einem verschneiten Grat unterhalb einer großen Felsstufe. "Die Stelle, die ich meine, ist die herausragende Felsstufe direkt am Fuß der Gipfelpyramide", berichtete er später. Er beobachtete, dass die beiden schnell vorwärts kamen - aber noch mindestens drei Stunden zum Gipfel brauchen würden und dann spät in der Dunkelheit absteigen müssten. Dann zog auch noch ein heftiger Schneesturm auf. Besorgt bereitete Noel Odell das höchste Lager für die Rückkehr der beiden vor. Er war der letzte, der Mallory und Irvine lebend sehen sollte.

Die Ausrüstung von George Mallory am Mount Everest

Mallory und Irvine kommen nicht zurück

Die Suche nach George Mallory und Andrew Irvine verlief ergebnislos. Die beiden Bergsteiger blieben auch in den nächsten Tagen und Wochen verschwunden. Die Spekulationen, ob sie es auf den Gipfel geschafft hatten oder nicht, begannen. 1933 wurde der Eispickel von Andrew Irvine auf dem Gipfelgrat des Mount Everest auf fast 8.500 Metern Höhe gefunden. Doch auch dieser Fund konnte darauf keine Antwort geben.

Chinese entdeckt in den 1970er-Jahren "alten englischen Toten"

Nach dem zweiten Weltkrieg waren Expeditionen am Mount Everest nur noch über die nepalesische Südroute möglich. Hier gelang 1953 Edmund Hillary und Tenzing Norgay die offizielle, verbürgte Erstbesteigung. Die Route von Norden, die die britischen Expeditionen genommen hatten, war versperrt. China hatte die Grenzen Tibets geschlossen. Nur chinesische Expeditionen durften diesen Weg nehmen. Mitte der 1970er-Jahre entdeckte der Chinese Wang Hongbao auf rund 8.200 Metern des Mount Everests ein Leiche. Doch erst 1979 berichtete er einem japanischen Bergsteiger davon: Er habe einen "alten englischen Toten" gefunden, ungefähr 20 Minuten von Lager 6 entfernt.

"Ich hab mich immer wieder gefragt, gibt es irgendeine Möglichkeit, dieses Suchgebiet ein bisschen näher einzugrenzen. Und mir ist irgendwann - das war 1998 - beim Betrachten von Fotos vom letzten Lager an der Everest-Nordseite aufgefallen, dass dieses Lager scheinbar nicht immer an derselben Stelle steht. Die Perspektive auf den Gipfel, auf den Gipfelgrat, ist in den unterschiedlichen Fotos immer ein bisschen anders. Und da dachte ich mir: Kann man vielleicht aus dieser Verschiebung irgendeine Methode rausbekommen, mit der man den Standort bestimmen kann?"

Jochen Hemmleb, Geologe und Everest-Experte

Edmund Hillary und Tenzing Norgay auf dem Gipfel des Mount Everest

1999: Jochen Hemmleb definiert Suchgebiet

In den 1920er-Jahren zum Mount Everest

Damals gab es keine Routen auf den Gipfel, noch nicht einmal zum Mount Everest selbst. Die Anreise erfolgte per Schiff nach Indien, dann mit der Bahn, am Ende zu Fuß. Rund sechs Wochen lang war man allein zum Berg unterwegs.

In seiner Frankfurter Studentenwohnung analysierte Jochen Hemmleb ein Foto des chinesischen Lagers, von dem aus Wang Hongbao den Toten gefunden hatte. Hemmleb orientierte sich an Schneefeldern oder Felsen, die auch auf anderen Fotos zu sehen waren und immer im gleichen Verhältnis zueinander standen. Über Rückpeilung schaffte er es, den Standort des chinesischen Lagers zu bestimmen. Es befand sich weit abseits der heutigen Routen. Hemmleb konnte ein eindeutiges Suchgebiet identifizieren und verbreitete seine Erkenntnisse im Internet. Gemeinsam mit anderen Everest-Forschern und Bergsteigern entwickelte er die Idee einer Suchexpedition. Nach Verhandlungen mit Sponsoren und Filmproduktionsfirmen begann die Suche nach Mallory und Irvine.

Mai 1999: Suchmannschaft findet George Mallory

Im Mai 1999 blickt Jochen Hemmleb vom Basislager des Mount Everests aus mit dem Teleskop in den Gipfelbereich. Die fünf Bergsteiger der Suchmannschaft suchen die Toten auf Hemmlebs festgelegten Routen. Irgendwann erhält Hemmleb vielversprechende Funksprüche. Er beobachtet, wie die Mannschaft für zwei Stunden auf 8.100 Metern zusammenkommt. Der Suchtrupp hat George Mallory gefunden, 75 Jahre nach seinem Tod. Sein Leichnam ist in der Kälte gut erhalten. Mallory hat seine Hände in den Fels gekrallt, als würde er sich gegen einen Absturz wehren. Ein Bein ist kurz oberhalb des Knöchels gebrochen. Die Bergsteiger finden Briefe und Notizen, außerdem seine Schneebrille, ein Taschenmesser und Streichhölzer. Aber keine Kamera.

Andrew Irvine und die Kamera könnten Hinweise liefern

Mit der Kamera fehlt auch der fotografische Beweis, dass es Mallory und Irvine bis zum Gipfel des Mount Everest geschafft haben. Auch die schriftlichen Notizen liefern keine eindeutigen Antworten. Dem Team fällt auf, dass Mallory das Foto seiner Frau Ruth nicht bei sich trägt. Er hatte zuvor angekündigt, es auf dem Everest-Gipfel zu hinterlegen. Ist ihm das gelungen? Oder ist das Foto vor oder nach seinem Tod verloren gegangen? Auch sein Berggefährte Andrew Irvine ist bislang nicht gefunden worden. Fest steht, dass die beiden im Juni 1924 im Gipfelbereich den Tod fanden. Wie weit sie gekommen sind und ob sie den Auf- oder den Abstieg nicht überlebt haben, bleibt weiter offen.

Wie hoch ist der Mount Everest?

Lange haben sich China und Nepal um die Höhe des höchsten Berges der Erde gestritten, der auf der Grenze beider Länder liegt. 2020 haben sie sich geeinigt und gemeinsam nachgemessen. Der Mount Everest ist seit dem 8. Dezember 2020 offiziell 8.848,86 Meter hoch. Das sind 86 Zentimeter mehr, als indische Forscher in den 1950er-Jahren gemessen haben. Der neue Höhenwert kommt nicht nur durch genauere Messmethoden zustande, sondern auch, weil sich die Höhe des Mount Everest tatsächlich geändert haben könnte. Gründe dafür könnten ein starkes Erdbeben 2015 sein, durch das sich tektonische Platten verschoben haben, und das Abschmelzen der Schneedecke auf dem Gipfel aufgrund des Klimawandels.

Gemessen wurde mit Winkelmessgeräten anhand von bereits bekannten Punkten im Tal und Geräten, die GPS-Signale empfangen. Zusätzlich wurden Messungen der Schwerkraft in der Umgebung des Everests durchgeführt und Berechnungen mit einem Computermodell. Das war nötig, weil die Messung mit Satelliten nicht direkt die Höhe über dem Meeresspiegel erfasst. Für die Zusammenarbeit machten beide Länder erstaunliche Zugeständnisse: China leistet Infrastrukturhilfe an Nepal, ein äußerst armes Land. Nepal wiederum erkennt Taiwan und Tibet als Teile Chinas an.

Wo liegt der Mount Everest?

Der Mount Everest liegt im Himalaya. Über seinem Gipfel verläuft die Grenze zwischen den beiden Ländern Nepal und Tibet, das zu China gehört.


84