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Literaturnobelpreis 2013 Alice Munro, die Königin der Kurzgeschichten

Den Nobelpreis für Literatur erhält in diesem Jahr die kanadische Autorin Alice Munro. Für ihre feinfühligen, realitätsnahen Kurzgeschichten bekommt die 82-Jährige die bedeutendste literarische Auszeichnung der Welt.

Published at: 10-10-2013 | Archiv

Die kanadische Schriftstellerin Alice Munro erhält den Literaturnobelpreis 2013 | Bild: Reuters (RNSP)

Das Nobel-Komitee würdigte Alice Munro als "Meisterin der zeitgenössischen Kurzgeschichte". Einen einzigen Roman hat die zierliche Dame veröffentlicht - aber 13 Bände mit Kurzgeschichten. Kritiker und Kollegen sind sich einig: Sie hat das Genre der kleinen Erzählungen neu belebt und perfektioniert.

Munro habe "eine hohe Intensität in ihren Texten, sie kann auf 30 Seiten mehr sagen als andere Autoren auf 300", erläuterte Peter Englund, der ständige Sekretär der Schwedischen Akademie. Er lobte ihre stilistische Perfektion und ihre fantastische Melodie. Für ihre Wärme und ihr Mitgefühl wird Munro oft mit dem russischen Schriftsteller Anton Tschechow verglichen.

"Ich hatte schlicht zu wenig Zeit für das Schreiben, keine Zeit für große Würfe. Zur Kurzgeschichte fand ich also aus sehr praktischen Gründen."

Alice Munro

Alice Munro scheut keine Konflikte

Das Erzählen von Kurzgeschichten meistert sie wie kaum ein anderer Autor, vielleicht auch, weil sie immer nah an Munros eigenem Leben sind. Ihre Geschichten spielen häufig in Kleinstädten, in denen der Kampf um soziale Akzeptanz oft zu angespannten Beziehungen und moralischen Konflikten führt. Dabei beschreibt die Mutter von drei Kindern Generationskonflikte genauso wie gegensätzliche Lebensziele. Ihre Werke beinhalten alltägliche, aber entscheidende Momente, die existenzielle Fragen beleuchten. Oft geht es um Frauen - um Mütter und Töchter - im kanadischen Ontario, die erwachsen werden, sich verlieben und durch die schönen und traurigen Zeiten des Lebens mäandern.

"Schaut, was sie mit ihrer kleinen Geschichte ausrichten kann"

Alice Munro, eine zierliche Dame mit einem feinen Gespür.

"Aus diesem kleinen Strom füllt Munro seit fünfzig Jahren ihre Arbeit", schreibt der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen. "Und genau diese Vertrautheit macht ihr Reifen als Künstlerin so atemberaubend sichtbar: Schaut, was sie mit nicht mehr als ihrer kleinen Geschichte ausrichten kann. Je öfter sie zu ihrem Thema zurückkehrt, desto mehr findet sie dort."

Mit dem Schreiben begann die Autorin aus Ontario bereits als Teenagerin. Gleich ihr erstes Werk "Dance of the Happy Shades" ("Tanz der seligen Geister", 1968) wurde preisgekrönt, weitere große Auszeichnungen wie der Man-Booker-Preis für internationale Literatur (2009) folgten.

Munros Werke auf Deutsch

Das Bettlermädchen: Geschichten von Flo und Rose

Aus dem Amerikan. übers. von Hildegard Petry.
Stuttgart: Klett-Cotta, 1981.
Originaltitel: Who Do You Think You Are?

Kleine Aussichten: ein Roman von Mädchen und Frauen

Aus dem Amerikan. übers. von Hildegard Petry.
Stuttgart: Klett-Cotta, 1983.
Originaltitel: Lives of Girls and Women

Die Jupitermonde: Erzählungen

Aus dem Amerikan. übers. von Manfred Ohl und Hans Sartorius.
Stuttgart: Klett-Cotta, 1986.
Originaltitel: The Moons of Jupiter

Der Mond über der Eisbahn: Liebesgeschichten

Aus dem Amerikan. übers. von Helga Huisgen.
Stuttgart: Klett-Cotta, 1989.
Originaltitel: The Progress of Love

Glaubst du, es war Liebe?: Erzählungen

Aus dem Engl. übers. von Karen Nölle-Fischer.
Stuttgart: Klett-Cotta, 1991.
Originaltitel: Friend of my Youth

Offene Geheimnisse: Erzählungen

Aus dem Engl. von Karen Nölle-Fischer.
Stuttgart : Klett-Cotta, 1996.
Originaltitel: Open Secrets

Die Liebe einer Frau: drei Erzählungen und ein kurzer Roman

Aus dem Engl. von Heidi Zerning.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2000.
Originaltitel: The Love of a Good Woman

Der Traum meiner Mutter: Erzählungen

Aus dem Engl. von Heidi Zerning.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2002

Himmel und Hölle: neun Erzählungen

Aus dem Engl. von Heidi Zerning.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2004.
Originaltitel: Hateship, Friendship, Courtship, Loveship, Marriage

Tricks: acht Erzählungen

Aus dem Engl. von Heidi Zerning.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2006.
Originaltitel: Runaway

Wozu wollen Sie das wissen?: elf Erzählungen

Aus dem Engl. von Heidi Zerning.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2008.
Originaltitel: The View from Castle Rock

Der Bär kletterte über den Berg: drei Dreiecksgeschichten

Aus dem Engl. von Heidi Zerning.
Berlin: Wagenbach, 2008.
Originaltitel der Geschichte: The Bear Came Over the Mountain

Tanz der seligen Geister: fünfzehn Erzählungen

Aus dem Engl. von Heidi Zerning.
Zürich: Dörlemann, 2010.
Originaltitel: Dance of the Happy Shades

Zu viel Glück: zehn Erzählungen

Aus dem Engl. von Heidi Zerning.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2011.
Originaltitel: Too Much Happiness

Was ich dir schon immer sagen wollte : dreizehn Erzählungen

Aus dem Engl. von Heidi Zerning.
Zürich : Dörlemann, 2012.
Originaltitel: Something I've Been Meaning to Tell You

Liebes Leben: vierzehn Erzählungen

Aus dem Engl. von Heini Zerning.
Frankfurt am Main: S. Fischer 2013.

"Es gibt so viele davon"

Schon vor Jahren habe ihr Verleger ihr gesagt, sie sei Favoritin für den Literaturnobelpreis. Jetzt, wo sie eigentlich gar keine aktive Schrifstellerin mehr ist, hat sie ihn bekommen. "Ich werde wahrscheinlich nicht mehr schreiben", meinte sie im Sommer zu einer kanadischen Zeitung. "Es ist nicht so, dass ich das Schreiben nicht geliebt habe, aber man kommt in eine Phase, wo man über sein Leben irgendwie anders denkt." Enttäuschten Fans riet Munro kurzerhand, ihre bisher veröffentlichten Bücher nochmal zu lesen. "Es gibt so viele davon." Zuletzt war 2012 ihr Band "Dear Life" erschienen.

Biografie

Die Privatperson

Die kanadische Schriftstellerin Alice Munro erhält den Literaturnobelpreis 2013 | Bild: NobelPrize.org/Shapton 09

Alice Munro wurde am 10.07.1931 in Wingham, Ontario (Kanada), geboren. Ihre Mutter war Lehrerin, ihr Vater Fuchszüchter.

Nach der Highschool begann sie, Journalismus und Englisch zu studieren. Als sie 1951 heiratete, brach sie ihr Studium ab. Mit ihrem ersten Mann, James Munro, bekam sie drei Kinder und wurde zunächst Hausfrau. Erst als sie 1963 eine Buchhandlung eröffnete, widmete sie sich selbst auch wieder dem Schreiben. 1976 heiratete sie den Geografen Gerold Fremlin.

Heute lebt Alice Munro nicht weit von dem Ort ihrer Kindheit entfernt, in Clinton in Ontario, Kanada.

Die Schriftstellerin

Bereits Anfang der 1950er-Jahre schrieb sie für verschiedene Zeitschriften.

Ihr erstes größeres Werk, der Kurzgeschichtenband "Dance of the Happy Shades" (1968), erreichte einige Beachtung in Kanada. 1971 veröffentlichte sie eine weitere Sammlung von Kurzgeschichten, "Live of Girls and Women", die Literaturkritiker als Bildungsroman bezeichneten.

Die Zeit zum Schreiben musste sich die damalige Hausfrau und Mutter mühsam erkämpfen: Beim Kochen, während ihre Kinder schliefen oder in der Schule waren, feilte sie an ihrem kleinen Sekretär an ihren Zeilen.

Über die Jahre hinweg veröffentlichte Munro viele weitere Kurzgeschichtenbände, darunter "Who Do You Think You Are? (1978), "The Moons of Jupiter" (1982), "Runaway" (2004), "The View from Castle Rock" (2006), "Too Much Happiness" (2009).

Ihre Kurzgeschichte "The Bear Came Over the Mountain" aus dem Band "Hateship, Friendship, Courtship, Loveship, Marriage" (2001) bildete die Grundlage des kanadischen Spielfilms "An ihrer Seite" (Originaltitel "Away from Her") mit Julie Christie.

Das mühsame Geschäft mit den Kurzgeschichten

Seltenheitswert

Alice Munro ist erst die 13. Frau, die mit dem wichtigsten Literaturpreis der Welt ausgezeichnet wird. "Kann das sein? Das ist ja unglaublich! Das macht mich noch glücklicher, dass ich diesen Preis bekommen habe. Für uns als Frauen", meinte Munro, als sie von ihrer Auszeichnung erfuhr.

Nach zwanzig Jahren geht der Literaturnobelpreis jetzt wieder nach Nordamerika, nach Kanada zum ersten Mal.

Munro hat sich oft mit dem Schreiben und ihren Veröffentlichungen gequält, mied den Literaturbetrieb, wo es nur ging, noch heute gibt sie selten Interviews. Letztlich hat sie sich aber durchgebissen. Kurzgeschichten seien ein mühsames Geschäft, klagt die Schriftstellerin. "Die Literaturkritik betrachtet Kurzgeschichten noch immer als eine Art Übungsform für den Roman, als mindere Disziplin jedenfalls, und ich habe das lange selber geglaubt." Und sie gibt offen zu: "Was habe ich mich gequält bei Versuchen, einen Roman zu schreiben! Bis ich irgendwann realisiert habe, dass die Kurzgeschichte die mir gemäße Form des Schreibens ist."

"Dieses Buch ist so gut, dass ich hier gar nicht darüber sprechen will."

US-Schriftsteller Jonathan Franzen über den Erzählband 'Tricks'

Die Meisterin der Kurzgeschichten hat viele Fans, darunter Jonathan Franzen.

Ihr Kollege Jonathan Franzen gehört zu Munros prominenten Fans. Er meinte zu ihrem 2006 veröffentlichten Erzählband "Tricks": "Dieses Buch ist so gut, dass ich hier gar nicht darüber sprechen will. Zitate oder eine Zusammenfassung können dem Buch nicht gerecht werden. Man kann ihm nur gerecht werden, wenn man es liest. Lest Munro!" Mit der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood ist Munro eng befreundet. 2006 erzählte Alice Munro, dass sie sich einmal pro Woche in ihrem 3.000-Einwohner-Städtchen Clinton treffen und immer am selben Tisch sitzen. Atwood, die selbst zum erweiterten Kreis der Favoriten gehörte, twitterte nach der Bekanntgabe: "Huurra! Alice Munro gewinnt den Nobelpreis für Literatur."

"Es ist wundervoll. Es ist so überraschend und so wunderbar. Ich wusste lange nicht mal, dass ich bei denen auf der Liste stand. Das habe ich erst gestern erfahren."

Alice Munro nach der Bekanntgabe. Ihre Tochter hatte davon zuerst erfahren, ihre Mutter angerufen - und geweckt.

"Das Ausgezeichnetste in idealistischer Richtung"

Literaturnobelpreise seit 1995

2012: Mo Yan
2011: Tomas Tranströmer
2010: Mario Vargas Llosa
2009: Herta Müller
2008: J.M.G. Le Clézio
2007: Doris Lessing
2006: Orhan Pamuk
2005: Harold Pinter
2004: Elfriede Jelinek
2003: J.M. Coetzee
2002: Imre Kertész
2001: V.S. Naipaul
2000: Gao Xingjian
1999: Günter Grass
1998: José Saramago
1997: Dario Fo
1996: Wislawa Szymborska
1995: Seamus Heaney

Nach dem Willen Alfred Nobels soll den Nobelpreis für Literatur jedes Jahr derjenige erhalten, "der in der Literatur das Ausgezeichnetste in idealistischer Richtung hervorgebracht hat". Das Werk soll von hohem literarischen Rang sein und dem Wohl der Menschheit dienen.

Die Preisträger werden vom Nobelpreis-Komitee am Karolinska-Institut in Stockholm bekannt gegeben. Jeder der Nobelpreise ist mit acht Millionen Schwedischen Kronen, fast 925.000 Euro, dotiert. Die Preisträger eines Faches teilen sich die Summe. Die Nobelpreise werden am 10. Dezember überreicht.

Deutschsprachige Literaturnobelpreisträger

Hintergrund

Wie schafft es die 18-köpfige Jury, sich auf ein Werk zu einigen? Nobels Maßgabe, der Preis solle an ein "in idealer Weise herausragendes Werk" verliehen werden, ließ und lässt einigen Deutungsspielraum. Dennoch gilt der Literatur-Preis als der bedeutendste unter allen Nobelpreisen.


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