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Datenanalyse zur Biodiversität Artensterben und bedrohte Artenvielfalt in Europa

Datenjournalistinnen des Bayerischen Rundfunks haben für Euch einen Blick in die Daten zur Biodiversität geworfen: Wo kommen die meisten gefährdeten Arten vor? Welche Artengruppe schwindet am stärksten? Wo gibt es welche Bedrohungen für die Biodiversität?

Von: Claudia Kohler, Sophie Menner

Stand: 08.12.2022

Die Westliche Smaragdeidechse (Lacerta bilineata) gilt als stark gefährdet. Hier ruht ein ausgewachsenes Männchen auf einem Baumstamm, Italien, Europa | Bild: picture alliance / imageBROKER | Emanuele Biggi/FLPA

"Wir befinden uns heute im größten Artensterben seit dem Ende der Dinosaurierzeit vor 65 Millionen Jahren", schreibt der World Wide Fund for Nature (WWF). Immer mehr Tierarten sind bedroht. Wie viele und im welchen Ausmaß, ist nicht leicht zu ermitteln. In Deutschland etwa werden laut Experten zu wenige Beobachtungsdaten erhoben und zusammengeführt. Diese Daten entstehen, wenn man an einem Ort jedes Jahr den Bestand zählt. Nur aus diesen Daten kann man verlässlich etwas über eine zeitliche Entwicklung sagen. Wie haben vorhandene Daten analysiert und sagen, wie es um den Artenschwund und das Artensterben steht.

Weltweiter Rückgang: Der Living Planet Index 

Wie drastisch die Artenvielfalt oder Biodiversität auf der ganzen Welt bedroht ist, hat der WWF mit dem sogenannten Living-Planet-Index berechnet: Die darin beobachteten, auf der ganzen Welt verteilten Wirbeltierpopulationen schrumpfen im Schnitt um 69 Prozent. Experten sehen Wirbeltiere als guten Indikator. Denn wenn ihre Populationen schrumpfen, haben sich auch die Populationen der Pflanzen und Mikroorgansimen auf den Ebenen darunter verändert, obwohl das auf den ersten Blick nicht auffällt. Und das hat Folgen für die gesamten Ökosysteme. 

Rote Liste: Im Süden Europas gibt es die meisten bedrohten Arten 

Die International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) stellt eine globale Rote Liste der bedrohten Arten zur Verfügung. "Die IUCN Rote Liste betrachtet sehr stark das Aussterberisiko. Aussterben bedeutet, dass das letzte Individuum von dieser Erde verschwunden ist", erklärt Jörg Freyhof, Wissenschaftler am Museum für Naturkunde in Berlin.

"Arten, die ein kleines Verbreitungsgebiet haben, haben ein höheres Aussterberisiko als Arten, die weit verbreitet sind", sagt Freyhof. Solche Arten kommen in Europa vor allem im Mittelmeerraum vor. Daher sind besonders viele Spezies in Spanien, Griechenland und Italien bedroht - darunter besonders viele wirbellose Tiere wie Insekten oder Pflanzen. Anders in Mitteleuropa: Dort waren lange Zeit Flächen von Eis und Gletschern bedeckt. Deshalb gibt es dort weniger Pflanzen- und Tierarten mit einem kleinen Verbreitungsgebiet.

"Wenn eine Quelle in Niedersachsen austrocknet, ist das vielleicht erstmal nicht so schlimm, weil es noch Hunderte ähnliche Quellen gibt (...). Aber wenn in Spanien eine Quelle austrocknet, dann kann es sein, dass eine ganze Artengemeinschaft, die dort Jahrmillionen gelebt hat, weg ist."

Jörg Freyhof, Wissenschaftler am Museum für Naturkunde in Berlin

Besorgniserregende Naturräume: Küste und Alpenraum

In den Deutschlanddaten stechen immer wieder zwei Naturräume ins Auge, die Forscherinnen und Forscher Sorgen machen: die Küste und der Alpenraum. "Das Wattenmeer ist ja von großer überregionaler, internationaler Bedeutung, vor allem, weil es dort sehr viele arktische Wasservögel gibt", erklärt Jörg Freyhof. Im Alpenraum habe man sehr viele Endemiten (Organismen mit einem nur sehr kleinem Verbreitungsgebiet), also vor allem Pflanzen, aber auch Insekten und andere Kleintiere wie Vögel - das Alpenschneehuhn zum Beispiel - die überwiegend oder fast nur in den Alpen vorkommen.  

Größte Bedrohungen für die Artenvielfalt sind menschengemacht 

In Eurasien gibt der Living Planet Index des WWF einen durchschnittlichen Rückgang in den Wirbeltierpopulationen von 18 Prozent an. Die Hauptbedrohungen für die Artenvielfalt in Europa und Zentralasien sind nach Angaben des WWF wohl Veränderungen in der Land- und Meeresnutzung. Durch Rodung etwa, nicht nachhaltige Landwirtschaft oder Straßenbau gehen Lebensräume verloren. Hummeln beispielsweise leiden unter der Intensivlandwirtschaft und den verwendeten Pestiziden. Zudem sind sie hitzesensibel. Ein durch den Klimawandel bedingter Anstieg von Hitzetagen lässt die Pflanzenbestäuber lokal aussterben - der Klimawandel ist generell eine weitere Bedrohung für die Arten in Europa. Hinzu kommt die Überbenutzung. Das bedeutet, dass Tiere zum Beispiel absichtlich durch Jagd und Wilderei oder unabsichtlich zum Beispiel durch Beifang in der Fischerei bedroht sind. 

EU-Richtlinien werden schlecht umgesetzt

Laut Jörg Freyhof gibt es für viele dieser Bereiche bereits Ziele und Richtlinien der EU - zum Beispiel Höchstwerte für das Düngen in der Landwirtschaft oder Vorgaben, wie mit Gewässern umgegangen werden muss. Allerdings ist der Fachmann der Meinung, dass gerade in Deutschland diese Regelungen schlecht umgesetzt werden.

"Also wenn alle EU-Länder ihre Vorgaben so schleifen lassen können wie Deutschland mit der Wasserrahmenrichtlinie, dann wundert mich irgendwann gar nichts mehr."

Jörg Freyhof, Wissenschaftler am Museum für Naturkunde in Berlin

Auch der WWF fordert mehr globale Ziele mit verbindlichen Maßnahmen für den Erhalt der biologischen Vielfalt. Ein möglicher Punkt wäre der Ausbau von Schutzgebieten. 

Studie: In welchen Regionen Deutschlands spielen welche Bedrohungen die größte Rolle? 

Ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Forschungseinrichtungen publizierte 2021 eine Studie zu den sechs globalen Hauptbedrohungen für die Artenvielfalt. Auf Karten veranschaulichen sie, wo diese am wahrscheinlichsten auftreten. Diese Daten können, so die Forscher, auch auf nationaler Ebene ein Gefühl dafür geben, wo sich mögliche Krisengebiete finden. Datenjournalistinnen des Bayerischen Rundfunks (BR24) haben diese Daten für Deutschland analysiert. 
 
Angegeben wird die Bedrohung durch eine Auswirkungswahrscheinlichkeit. Sie besagt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Art in einem Raster von einer Bedrohung, zum Beispiel dem Klimawandel, betroffen ist. In Deutschland sieht das für Säugetiere, Vögel und Amphibien so aus: Säugetiere sind vor allem von der Landwirtschaft in der Mitte des Landes und der Jagd an den Küsten betroffen. Vögel leiden vor allem unter dem Klimawandel - und das ebenfalls besonders in den Küstenregionen. Amphibien sind vielen Bedrohungen ausgesetzt. Am häufigsten sind auch sie von den Folgen der Landwirtschaft, Jagd und Fallen sowie der Abholzung über ganz Deutschland hinweg betroffen. 

Bedrohungen für Amphibien

Auswirkung der Landwirtschaft auf die Artenvielfalt

Die Landwirtschaft in Deutschland kann über alle drei Artengruppen hinweg fast flächendeckend eine hohe Auswirkung haben. Eine Entwicklung, die Carl Beierkuhnlein, Lehrstuhlinhaber des Lehrstuhls Biogeografie der Universität Bayreuth, bestätigt und sehr kritisch sieht:

"Wir könnten auf sehr viel geringere Fläche eine nachhaltige Landwirtschaft zur Versorgung unserer Bevölkerung betreiben - die dann auch nicht zur Belastung von Grundwasser und Atmosphäre durch Stickstoff und Kohlenstoff und damit zum Klimawandel beiträgt."

 Carl Beierkuhnlein

Studiendaten haben Schwachstellen

Nicht ohne Grund haben die Forscher die Daten der Wirbeltiere untersucht - es gibt hier die meisten Experten, die zur IUCN Liste beitragen und damit die meisten Informationen. Die Daten zur Gefährdung durch Umweltverschmutzung, die in der Originalstudie vorhanden waren, werden von den Datenjournalistinnen für Deutschland nicht dargestellt - zu ungenau ist das Ergebnis nach der Einschätzung der interviewten deutschen Experten. Carl Beierkuhnlein fehlt in den Kategorien außerdem die Gefährdung durch die zerklüftete Kulturlandschaft, die vielen Arten eine Ausweichreaktion schwer macht. Global nicht unter den Top sechs Bedrohungen - in Deutschland jedoch ein großes Thema. 

Datenlage zur Biodiversität ist schwierig 

Komplexe Zusammenhänge wie verschiedene lokale Bedrohungslagen sind schwer zu beziffern. Aber auch an lokalen und regionalen Beobachtungsdaten fehlt es vielfach. Dabei wäre gerade das laut Carl Beierkuhnlein wichtig: Ökosysteme funktionieren lokal und regional - auf dieser Ebene müsste genau erfasst und analysiert werden. 

In Abwesenheit von Beobachtungsdaten behelfen sich Forschenden anderweitig - zum Beispiel mit den Roten Listen. Diese beruhen laut Beierkuhnlein zum Großteil auf dem Expertenwissen der Autoren und Autorinnen.

"Das soll nicht bedeuten, dass diese Listen wertlos sind. Nein, sind sehr wertvoll, aber sie sind eben mit einem gewissen Teil von Subjektivität versehen. (...) Das ist erforderlich, weil wir als Gesellschaft bislang zu wenig investiert haben, um wirklich flächendeckende, zeitlich hochaufgelöste Daten zur Entwicklung der Biodiversität in unserem Land zu generieren."

 Carl Beierkuhnlein

Naturschutz ist in Deutschland Ländersache

Auch für die einzelnen Bundeländer gibt es Auflistungen, denn Naturschutz fällt in Deutschland in den Aufgabenbereich der Länder. Vergleichen lassen diese sich laut einer Sprecherin des Rote-Liste-Zentrums Deutschland untereinander jedoch nur sehr schwer - Methoden und Gefährdungskategorien unterscheiden sich; oft ist der Datenstand zeitlich zu weit auseinander. Und weiter aufgeschlüsselte Daten gibt es auch fast keine. 

 


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