Geschwisterbeziehung Wie sehr unsere Geschwister uns prägen

Von: Marisa Gierlinger

Stand: 19.11.2024

Geschwister gehören zu unseren längsten und oft innigsten Beziehungen. Doch nicht bei allen hält die Bindung bis ins Erwachsenenalter. Was können Eltern tun, um Streit und Rivalitäten zu vermeiden? Und welche Rolle spielen Geburtenfolge und Alter?

Geschwister beim gemeinsamen Malen. Geschwister haben Einfluss auf unser Leben und unsere Persönlichkeit. Wie lässt sich die Beziehung stärken, und was können Eltern gegen Konflikte tun? | Bild: picture alliance / Westend61 | Anastasiia Sienotova

Beziehung fürs Leben: Was Geschwister verbindet

Tick, Trick & Track, Venus und Serena Williams oder die Gebrüder Grimm. Es gibt unzählige Beispiele, die deutlich machen: Geschwisterbeziehungen sind besonders. Obwohl die Familien kleiner werden, haben in Deutschland rund 80 Prozent aller Individuen Geschwister. Sie gehören zu den längsten Beziehungen, die wir in unserem Leben haben - und unterscheiden sich auch sonst von anderen. "Blut ist dicker als Wasser", heißt es umgangssprachlich. Aber auch Experten schreiben Geschwistern eine besondere Bedeutung zu. Als Kinder begleiten Geschwister uns bei wichtigen Entwicklungsschritten. Sie bieten erste Nähe- und Konflikterfahrungen, sind Vorbilder, Verbündete oder Konkurrenten. In späteren Lebensjahren verbinden einen die gemeinsamen Erinnerungen und geteilte Verantwortung, wenn es zum Beispiel um die Pflege der Eltern geht.

Geschwister: Eine horizontale Bindung

"Geschwister können sehr viel voneinander profitieren. Wir wissen zum Beispiel, dass viele Kinder von den älteren Geschwistern lernen zu lesen und zu schreiben. Geschwisterkinder lernen aber auch, wie man streitet, wie man sich versöhnt. Einstellungen, die man voneinander übernimmt oder ablehnt. Zum Beispiel Musikstile, die man dann auch toll findet oder eben doof. Man lernt Widerstand zu leisten, nachzugeben, also ganz viele Gefühlsmuster und Einstellungsmuster, die auf einer anderen Ebene als mit den Eltern trainiert werden, auf einer horizontalen Ebene. Das sind andere Beziehungsebenen und Muster. Und das heißt, es sind auch andere Möglichkeiten, solche Muster zu trainieren, zu verfeinern, zu verändern und zu erweitern."

Prof. Jürg Frick, Psychologe und Geschwisterforscher

Sandwichkind, Nesthäkchen, Große-Schwester-Syndrom: Hat die Geschwisterposition Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung?

Unsere Geschwister prägen uns. Davon sind Entwicklungspsychologen und Pädagogen überzeugt. Seit den 1960er-Jahren hat die Geschwisterforschung als eigener Forschungsbereich Fahrt aufgenommen. Sie beschäftigt sich neben den Beziehungsmodellen auch damit, welchen Einfluss Geschwister auf unsere Persönlichkeit und unsere Entwicklung haben. Auch die Geburtenfolge rückt dabei ins Interesse. In den Sozialen Medien schreiben sich etliche Userinnen selbst ein "Große-Schwester-Syndrom" zu, und auch sonst gibt es dazu jede Menge gefühlte Wahrheiten. Die Älteste, die immer aufpassen und Verantwortung übernehmen muss. Das Nesthäkchen, das immer bevorzugt wird. Das Sandwichkind, das irgendwie durchs Raster fällt. Effekte der Geschwisterreihenfolge auf die Persönlichkeit lassen sich statistisch nicht belegen, wie unter anderem eine Studie aus dem Jahr 2015 zeigt.

Brüder versus Schwestern

Entwickelt man sich unterschiedlich, je nachdem, ob man Brüder oder Schwestern hat? Auch über diese Frage wurde schon viel diskutiert. Eine Theorie besagt, dass geschlechtsspezifische Verhaltensmerkmale verstärkt werden, wenn man mit andersgeschlechtlichen Geschwistern aufwächst. Also zum Beispiel: Die Schwester unter drei Brüdern gibt sich bewusst feminin. Etwa genauso populär ist die entgegengesetzte Theorie, wonach sich das soziale Verhalten unter Geschwistern angleicht, Jungs mit einer oder mehreren Schwestern zum Beispiel einfühlsamer werden. Eine Metastudie aus dem Jahr 2022 widerlegt inzwischen beides. Demnach gebe es auch hier keinen eindeutig nachweisbaren Effekt.

Sind Einzelkinder egoistischer?

Besonders hartnäckig halten sich Klischees über Einzelkinder: Sie seien verwöhnt, egoistisch oder intolerant. Interessanterweise gibt es keine aussagekräftigen Unterschiede in Persönlichkeit oder Sozialverhalten. Das könnte daran liegen, dass Einzelkinder häufig andere Sozialisationserfahrungen machen, glaubt Jürg Frick. "Also über die Kita, mit Nachbarskindern, im Kindergarten, in der Schule. Und viele Eltern versuchen hier wirklich, die Kinder früh mit anderen in Kontakt zu bringen. So gibt es dann ähnliche Möglichkeiten für Beziehungsgestaltungen."

Geschwister-Klischees: Ist was dran an den Vorurteilen?

"Das Problem ist, dass diese Pauschalisierungen nicht ganz falsch sind. Aber sie sind eben auch nicht ganz richtig. Die Reihenfolge oder der Platz in der Familie ist ein Faktor, der tatsächlich eine Rolle spielt. Aber es kommt dann sehr auf die weiteren Einflussfaktoren an. Von daher gibt es Fälle, in denen zum Beispiel Älteste sich wirklich genauso verhalten, wie das in diesen Typisierungen beschrieben wird. Und dann gibt es auch Älteste die sich eben genau nicht so verhalten. Es gibt bestimmte Tendenzen, die dann aber wieder auf ganz viele andere Faktoren stoßen. Jede Familienkonstellation ist letztlich individuell."

Prof. Jürg Frick, Psychologe und Geschwisterforscher

Video: Was die Bindung zu Geschwistern stärkt

Streit, Eifersucht, Rivalität: Wie lassen sich Konflikte zwischen Geschwistern vermeiden?

Im Gegensatz zu Freunden können wir uns unsere Geschwister nicht aussuchen - und müssen trotzdem mit ihnen auskommen, auf mehr oder weniger engem Raum zusammenleben. Der ein oder andere Konflikt ist da unvermeidbar. Das Geschwisterverhältnis ist immer auch vom Wettstreit um elterliche Ressourcen geprägt, sagt der Sozialpädagoge Professor Stephan Sting von der Universität Klagenfurt. Der Psychotherapeut Alfred Adler sprach in diesem Zusammenhang gar von einem "Entthronungstrauma", einer Art eifersüchtigem Hass des Erstgeborenen auf das jüngere Geschwisterkind. Mit dieser Konkurrenz und den daraus entstehenden Konflikten umzugehen sei allerdings gut, um soziale Kompetenzen zu erlernen. Und: Es fördert die Nähe zwischen Geschwistern, wie eine Studie unter Beteiligung der Ludwig-Maximilians-Universität München von 2014 nahelegt. Demnach ergeben sich Rivalitäten, aber auch besondere Näheverhältnisse vor allem unter gleichgeschlechtlichen Geschwistern. Werden die Konfliktherde zu groß, liegt es auch an den Eltern, das Konflitkpotenzial zu reduzieren.

Geschwister-Bindung: Die Eltern-Kind-Beziehung ist entscheidend

"Ganz wesentlich ist, dass die Eltern versuchen, die Kinder nicht zu vergleichen. Dass sie Kinder nicht bevorzugen oder benachteiligen. Das ist leichter gesagt, als getan. Sie müssen ihre Kinder als eigenständige Individuen betrachten, die alle unterschiedlich sind und das auch sein dürfen. Wichtig ist auch, dass Eltern eine gute Bindung zu den einzelnen Kindern aufbauen. Verlässlichkeit, Sicherheit, Ermutigung. Auch später dann wenn es um den Partner oder die Berufswahl geht. Da muss man als Eltern unterstützen, großzügig sein und von fixen Vorstellungen ablassen können. Das sind alles Dinge, die das Verhältnis zu den Eltern und damit auch das Geschwisterverhältnis beeinflussen können."

Prof. Jürg Frick, Psychologe und Geschwisterforscher

Video: Was macht eine gute Geschwisterbeziehung aus?

Geschwisterbeziehung im Erwachsenenalter: Warum entfremden sich Geschwister?

Leibliche Geschwister wachsen meist gemeinsam in einem Haushalt auf. Das schweißt zusammen. Verlassen Kinder das Nest, dann lockert sich dieser Kontakt. Man sieht sich weniger häufig, andere wichtige Beziehungen werden geknüpft. Wie eng das Verhältnis bleibt, hängt von mehreren Faktoren ab. Dazu gehören die vorherigen Familienverhältnisse, die Anzahl der Geschwister, deren Alter oder Geschlechterzusammensetzung. Je größer die Geschwistergruppe, desto weniger Kontakt gibt es später oft im Einzelnen. Aber auch die Wohndistanz oder der Familienstatus spielen später eine wesentliche Rolle. Grund für eine Entfremdung ist hingegen häufig ein allgemein belastetes familiäres Klima. So kann eine als unfair empfundene Behandlung durch die Eltern im Kindesalter das Verhältnis zwischen Geschwistern nachhaltig schädigen.

In der frühen Kindheit können Eltern aktiv zu einer guten Geschwisterbindung beitragen. Ab einem gewissen Punkt sollten sie aber keinen Druck ausüben, sagt der Schweizer Geschwisterforscher Jürg Frick. "Es gibt Geschwisterbeziehungen, die sind schlecht, die bleiben schlecht und die schließen schlecht ab. Und es gibt Beziehungen, die schlecht beginnen, sich aber gut entwickeln. Solche Beziehungen können sich immer wieder verändern, das ganze Leben lang. Ich glaube, für Menschen ist es sehr wichtig, das auch offen zu lassen."

Geschwister-Erziehung: Nicht gleich, aber fair

"Es geht nicht darum, dass Eltern Kinder immer gleich behandeln, weil das unfair wäre. Den Kleinen, der weint, den nehme ich in den Arm und tröste ihn. Das will der Ältere vielleicht nicht mehr. Das heißt, es geht nicht um eine absolute Gleichbehandlung, sondern darum, dass Kinder das bekommen, was sie brauchen. Es können auch nicht beide Kinder gleich früh oder spät ins Bett gehen. Damit das Kind nicht das Gefühl bekommt, es wird benachteiligt, ist es wichtig, dass die Eltern das eben auch erklären: Du bist jünger und brauchst noch mehr Schlaf, oder: Du bist kleiner, deshalb musst du früher nach Hause kommen. Wenn du so alt bist wie dein Bruder, kannst du das auch. Aber dann gibt es schon Dinge, bei denen man Kinder ein stückweit auch gleich behandeln muss, im Sinne, dass man auch allen Kindern Aufmerksamkeit schenkt. Auch ältere Kinder brauchen Aufmerksamkeit, Ermutigung oder Feedback und so weiter, aber es muss einfach entwicklungsbezogen sein."

Prof. Jürg Frick, Psychologe und Geschwisterforscher

Geschwister: Infos und Sendungen zu Geschwisterbeziehungen