Krankhafter Perfektionismus Seid ihr zu perfektionistisch?

Von: Delia Friess

Stand: 25.01.2024

Ihr seid mit euch und eurer Arbeit nie zufrieden? Ihr fühlt euch sogar schlecht, obwohl ihr etwas Tolles geschafft habt? Vielleicht seid ihr zu perfektionistisch. Wir erklären euch Ursachen und Symptome und haben Tipps gegen ungesunden Perfektionismus.

Schreibtischutensilien liegen ordentlich auf einem Tisch. Hier erfahrt ihr, welche Formen von Perfektionismus es gibt, wann er krankhaft ist und wann er nützt.  | Bild: colourbox.com

Symptome: Wie sich Perfektionismus bemerkbar macht

Ihr korrigiert eure Arbeit so oft, dass ihr fast die Abgabefrist verpasst. Ihr schlagt euch beim Vorbereiten der perfekten Präsentation die Nächte um die Ohren. E-Mails lest ihr euch zigmal durch, weil ihr befürchtet, einen Fehler zu übersehen. Aus Angst, Spanisch doch nie richtig zu können, verzichtet ihr auf den Sprachkurs. Auf die höhere Stelle bewirbt sich euer Kollege, weil ihr glaubt, euch würden wichtige Kompetenzen fehlen. Für Gäste zaubert ihr ein Fünf-Gänge-Menü, mit dem nur ihr nicht zufrieden seid. Abends schwitzt ihr im Fitnessstudio und auch im Urlaub dürfen Sport und Smartphone nicht fehlen. Was andere von euch denken, ist euch wichtig.

Wenn ihr euch schlecht fühlt, weil ihr eure selbstgesteckten Ansprüche nicht erfüllt oder ihr, trotz eurer Erfolge, nur eure Defizite seht, deutet das auf einen ungesunden Perfektionismus hin.

Beim Perfektionismus kann es um mehr gehen, als nur sein Bestes zu geben, ehrgeizig zu sein oder akribisch und gewissenhaft zu arbeiten. Häufig geht Perfektionismus mit Versagensangst, Selbstzweifeln und mangelndem Selbstwertgefühl einher und kann deshalb zu anderen psychischen Erkrankungen führen.

Audio: Was Perfektionismus mit Selbstzweifeln zu tun hat

Dysfunktionaler Perfektionismus: Ab wann wird Perfektionismus krankhaft?

Wissenschaftler untersuchen Perfektionismus erst seit Ende der 1970er-Jahre genauer. In der Forschung unterscheidet man grob zwei Formen des Perfektionismus:

gesunden, positiven, sogenannten funktionalen Perfektionismus und ungesunden, negativen, neurotischen, sogenannten dysfunktionalen Perfektionismus.

Beim dysfunktionalen Perfektionismus geht das Verhalten häufig mit der Angst einher, zu versagen. Diese Form des Perfektionismus basiert auf einem niedrigen Selbstwertgefühl und ist häufig sogar kontraproduktiv. Betroffene setzen sich dabei sehr hohe Maßstäbe, die sie selten oder sogar niemals erreichen können. Der Grund dafür ist, dass dysfunktionale Perfektionisten ihre Aufmerksamkeit stärker auf ihre vermeintlichen Defizite statt auf ihre positiven Eigenschaften richten. Ihr habt beispielsweise im Job eine erfolgreiche Präsentation gehalten und bekommt dafür viel Lob. Trotzdem ärgert ihr euch noch Tage später über kleine Versprecher und fragt euch, was andere nun über euch denken könnten. Das kann belastend sein. Traut ihr euch das nächste Mal nicht mehr zu, eine Präsentation zu halten, ist das sogar kontraproduktiv. Dysfunktionaler Perfektionismus hat viel mit überzogenen Erwartungen zu tun, die Perfektionisten an sich selbst richten oder von denen sie annehmen, dass andere sie an sie stellen.

Menschen, die unter Versagensangst oder einem niedrigen Selbstwertgefühl leiden, sind auch häufiger labiler. Das macht sie auch anfälliger für Vermeidungsstrategien, Prokrastination und "Checking"-Verhalten wie das häufige Kontrollieren von E-Mails auf Fehler. "Die sogenannten 'perfektionistischen Bedenken', also das ständige Hinterfragen der eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten, sind ebenfalls charakteristisch für dysfunktionalen Perfektionismus. Deshalb gibt es auch Überschneidungen mit dem sogenannten 'Imposter-Syndrom', auf Deutsch 'Hochstapler-Syndrom' genannt", erklärt Dr. Christine Altstötter-Gleich, Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Psychologie an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau. "Bei dem 'Hochstapler-Syndrom' befürchten Betroffene ständig, aufzufliegen. Obwohl ihre Leistungen von ihrem Umfeld wertgeschätzt werden, haben Betroffene die unrealistische Angst, dass ihr Umfeld ihre vermeintliche Inkompetenz erkennen könnte", ergänzt die Expertin.

Es handelt sich dabei um einen Teufelskreis: Je kritischer Perfektionisten ihr Tun hinterfragen und sich auf ihre vermeintlichen Fehler fokussieren, desto stärker wird die Angst vor den möglichen Konsequenzen. Empirische Studien kamen sogar zu dem Ergebnis, dass Menschen mit perfektionistischen Tendenzen häufiger unter Depressionen, Ängsten, Zwangsstörungen, Burn-out oder Esstörungen leiden.

Video: Seid ihr zu perfektionistisch?

Definition und Unterschied: Funktionaler und dysfunktionaler Perfektionismus

Mann sitzt in einem Büro und fasst sich an den Kopf. Hier erfahrt ihr, welche Formen von Perfektionismus es gibt, wann er krankhaft ist und wann er nützt.  | Bild: colourbox.com

Beim dysfunktionalen Perfektionismus versuchen Betroffene, negative Folgen abzuwenden. Sie vermuten vermeintliche Defizite.


Kurz gesagt, lassen sich beide Formen des Perfektionismus so unterscheiden: Beim funktionalen, gesunden Perfektionismus versucht jemand, sein Bestes zu geben, um Erfolge zu erzielen. Im Unterschied dazu legen Menschen mit einem dysfunktionalen, ungesunden Perfektionismus ein möglichst makelloses Verhalten an den Tag, um negative Folgen abzuwenden. Bei einem Nichtgelingen fürchten Betroffene starke Konsequenzen: Andere könnten sie nicht mehr wertschätzen oder sogar nicht mehr mögen.

Zitat: Wenn Perfektionismus einschränkt

"Per se ist Angst nichts Schlechtes, da sie uns schützt. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft: Gewissenhaftigkeit, Leistungsbereitschaft und vermeintliche Makellosigkeit können daher ein Schutzmechanismus sein, um in dieser Welt zu bestehen. Entsteht ein Leidensdruck aufgrund von Versagensangst, handelt es sich oft um dysfunktionalen Perfektionismus. Dysfunktionaler Perfektionismus schränkt im Alltag häufig ein: Zum Beispiel, wenn jemand zu Vermeidungsverhalten neigt, weil er Angst hat, Herausforderungen wie Prüfungen nicht zu bestehen, oder Aufgaben vor sich herschiebt."

Dr. Christine Altstötter-Gleich, Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachbereich Psychologie, Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau

Verhalten von Perfektionisten: Wer ist besonders anfällig für Perfektionismus?

Eine Frau sitzt mit Laptop vor einem Kinderwagen. Hier erfahrt ihr, welche Formen von Perfektionismus es gibt, wann er krankhaft ist und wann er nützt.  | Bild: colourbox.com

Es gibt Hinweise, dass das Geschlecht beim Perfektionismus eine Rolle spielt. Abschließend ist dies aber nicht bewiesen.

Ist die Tendenz zu Perfektionismus erblich? Man geht davon aus, dass nur etwa 30 Prozent genetisch bedingt sind. Der andere Teil geht auf unsere Erziehung und Erfahrungen zurück. Es gibt Hinweise darauf, dass Elternteile perfektionistische Tendenzen eher an Kinder mit dem gleichen Geschlecht weitergeben, Frauen also eher an ihre Töchter und Männer an ihre Söhne. Bisher gibt es jedoch keinen Konsens darüber, welche Rolle das Geschlecht beim Perfektionismus tatsächlich spielt, ob Frauen ein höheres Risiko haben, perfektionistisch zu sein oder per se häufiger perfektionistischer sind. Frauen übernehmen jedoch häufiger "unsichtbare Aufgaben" und sind deshalb häufiger von Mental Load betroffen. Perfektionismus kann sich jedoch auf viele verschiedene Bereiche und die jeweiligen individuellen Interessen beziehen. Man kann perfektionistisch im Hinblick auf seine Arbeit, als Eltern, sein Hobby oder auf seinen Körper sein.

Ursachen in der Kindheit: Was löst ungesunden Perfektionismus aus?

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft: Gute Noten und Erfolg im Beruf haben gesellschaftliche Anerkennung und finanzielle Unabhängigkeit zur Folge. Der Leistungsgedanke zeigt sich schon in der Grundschule. Es gibt also eine soziale Komponente, die Perfektionismus begünstigt. "Kinder sind häufig in der Situation, etwas noch nicht gut zu können. In der Kindheit wird von Eltern der Grundstein für unseren Umgang mit Fehlern und Erwartungen an uns gelegt", erklärt Dr. Christine Altstötter-Gleich. Bestimmte Ausgangssituationen können dysfunktionalen Perfektionismus besonders begünstigen, fasst die Perfektionismus-Expertin zusammen: Sind Eltern sehr streng und haben Fehler oder hat ein Misslingen harte Strafen zur Folge, führt das häufig zu einem niedrigen Selbstwertgefühl bei Kindern. Oft haben Betroffene noch im Erwachsenenalter Angst, Fehler zu machen. Wenn Kinder nur dann Anerkennung bekommen, wenn sie gute Leistungen erbringen, kann das später ebenfalls zu ungesunden, perfektionistischen Tendenzen führen. Aber auch, wenn Kinder in einem missbräuchlichen oder chaotischen Umfeld aufwachsen, kann das die Ursache für ungesunden Perfektionismus sein. Kinder entwickeln dann einen Perfektionismus, um sich vor Übergriffen zu schützen, Struktur im Alltag herzustellen oder eine Fassade aufrechtzuerhalten. Sind Eltern sehr besorgt und ängstlich, dass ihr Kind beispielsweise Prüfungen und andere wichtige Lebensetappen nicht besteht, ist das auch ein Risikofaktor. Eigene Bedenken und Befürchtungen werden dann auf das Kind übertragen.

Tipps: Was ihr tun könnt, um ungesunden Perfektionismus zu überwinden

  • Erfragt die Standards und Erwartungen von euren Lehrern, Dozenten oder Vorgesetzten. Dadurch minimiert ihr das Risiko, euch zu verzetteln.
  • Teilt euch Aufgaben in kleinere Etappen auf und holt euch ein Feedback auf Teilleistungen ein.
  • Versucht euer Etappenziel im Blick zu behalten, Prioritäten zu setzen und euch nicht mit Details aufzuhalten. Gebt euch nur eine bestimmte Anzahl von Versuchen, eine Aufgabe umzusetzen.
  • Gleicht eure Ziele mit euren persönlichen Kompetenzen ab und denkt dabei daran, dass ihr lernfähig seid. Ist ein Ziel zu hoch, kann man es im nächsten Schritt angehen.
  • Versucht, eure Wahrnehmung zu verstehen und eure Aufmerksamkeit bewusst auf eure positiven Eigenschaften zu richten. Als Übung könnt ihr das Foto eines Zimmers oder euer eigenes Wohnzimmer betrachten. Schreibt euch auf, was ihr an dem Bild oder in eurem Zimmer wahrnehmt. Sollten vor allem negative Aspekte auf eurer Liste stehen, schaut euch das Bild oder Zimmer noch einmal genauer an. Versucht dabei positive Aspekte zu entdecken.
  • Unterzieht euren eigenen negativen Bewertungen einem Realitätscheck. Ist eure negative Sichtweise wirklich angemessen? Dafür empfiehlt Christine Altstötter-Gleich das Führen eines "Schwarz-Weiß-Tagebuches": Schreibt euch täglich auf, was ein Erfolg und ein Misserfolg war. Notiert euch außerdem, was euch an dem Tag Freude bereitet hat, aber nicht mit Leistung in Zusammenhang stand. Das Schwarz-Weiß-Tagebuch soll euch dabei helfen, den Blick für eure positiven Eigenschaften und für Grautöne zwischen dem Schwarz-Weiß-Denken zu schärfen.
  • Überdenkt euren Umgang mit Fehlern: Überlegt euch dafür, wie ihr selbst auf Fehler, zum Beispiel in einer E-Mail, reagieren würdet und fragt euch: "Ist es wirklich so schlimm, wenn ihr mal einen Fehler macht?"
  • Zögert nicht, euch rechtzeitig professionelle Hilfe zu suchen. Studienberatungen, Vertrauenslehrer oder Beratungsstellen können erste Anlaufstellen sein.

Quelle: Dr. Christine Altstötter-Gleich, Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachbereich Psychologie, Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau

Perfektionismus: Ohne Perfektionismus funktioniert unsere Gesellschaft nicht

"Pauschal kann man Perfektionismus nicht als schädlich bezeichnen. Ohne Perfektionismus würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren. Wo Qualität im Fokus steht und wenn es um Menschenleben geht, zum Beispiel in der Medizin oder Flugzeugtechnik, sind Perfektionisten unabdingbar. Leidet jemand aber unter Versagensangst und dysfunktionalem Perfektionismus, sollte man frühzeitig Hilfe suchen."

Dr. Christine Altstötter-Gleich, Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachbereich Psychologie, Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau

Gewissenhaftigkeit: Ist Perfektionismus eine Stärke oder eine Schwäche?

Perfektionismus wird in Vorstellungsgesprächen gerne als Schwäche genannt und dabei eigentlich als Stärke verkauft. Steht Perfektionismus doch für Leistungsbereitschaft und akribisches Arbeiten. Die Übergänge vom funktionalen, positiven Perfektionismus und dysfunktionalen, negativen Perfektionismus sind jedoch häufig fließend. Was zeichnet den positiven Perfektionismus aus? Es gibt durchaus gesunde Perfektionisten, die pflichtbewusst sind, gewissenhaft arbeiten und nach Exzellenz streben. Misslingt ihnen etwas, empfinden sie dies aber nicht als ein Scheitern ihrer Person oder befürchten, von ihrem Umfeld nicht mehr gemocht zu werden. Gesunde Perfektionisten ärgern sich ebenfalls über ihre Fehler, wenn sie passieren. Sie wissen aber, dass Fehler dazugehören und versuchen, daraus zu lernen. Auch ist es erstmal nichts Schlechtes, sein Tun gelegentlich zu hinterfragen. Menschen mit dieser positiven Form des Perfektionismus haben eine besondere Stärke: Sie bleiben flexibel. Das bedeutet, dass sie wissen, wann ihr perfektionistisches Denken sie aufhält. In diesem Fall weichen sie von einem Plan ab und suchen pragmatisch nach einer Lösung. Ein gesunder Perfektionist verliert sich beispielsweise dann nicht mehr im Detail, wenn ein Abgabedatum näherrückt. Beim dysfunktionalen Perfektionismus halten Betroffene auch dann noch an ihren selbstgesteckten Maßstäben fest, wenn sie ihnen bereits schaden.

Es gibt übrigens noch einen Grund, nicht überzogen perfektionistisch zu sein: Wenn Menschen mit gesundem Perfektionismus etwas besonders gut gelingt, empfinden sie Freude und Stolz. Ein Gefühl, dass auch Personen mit dysfunktionalem Perfektionismus spüren können, wenn sie lernen, sich selbst mehr wertzuschätzen.

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