Mit der Hand schreiben Handschrift: Trend oder Retro?

Von: Ortrun Huber

Stand: 17.01.2024

Zwischen Tablets und Textnachrichten scheint im digitalen Zeitalter von der Kulturtechnik der Handschrift nicht mehr viel übrig zu sein. Doch das Schreiben mit der Hand ist mehr als eine vermeintlich anachronistische Liebelei.

Ein Mann schriebt nach mittelalterlichem Vorbild Buchstaben in ein Buch aus Pergament.  | Bild: picture-alliance/ dpa | Bernd Thissen

Studien zeigen, dass die bewusste Bewegung eines Stifts über Papier Kreativität und Konzentration fördert. Kein Wunder, denn beim Handschreiben sind zwölf Hirnareale aktiv, mehr als 30 Muskeln und 17 Gelenke arbeiten zusammen. Manche sehen in den individuell fließenden Linien, Bögen und Schwüngen gar den Spiegel der Seele. Dabei ist es mit der Handschrift wie mit vielen Dingen, die die Menschheit bereits seit Jahrhunderten begleiten: Manche halten sie für hoffnungslos veraltet, andere gerade ob ihres vermeintlichen Anachronismus für besonders liebens- und gerade darum für besonders erhaltenswert.

Wie alles begann: Mehr Zeichnung als Buchstabe

Sumerische Keilschrift-Tafel, Tontafel, 7 x 5,8 cm. Departement des Antiquites Orientales, Paris, Musee du Louvre. | Bild: picture-alliance / akg-images / Erich Lessing

Einkerbungen auf einer Tontafel gelten als erstes Zeugnis menschlichen Schreibens: Sie stellen hier die Berechnung eines Grundstücks dar.

Das Schreiben mit der Hand, Experten sprechen von Chirografie, entstand als älteste und ursprüngliche Form des Darstellung von Schriftzeichen im späten 4. Jahrtausend v. Chr. in Mesopotamien: Diese frühe Form der sumerischen Keilschrift ist - neben den ägyptischen Hieroglyphen - die heute älteste bekannte Schrift. Sie wurde mit einem Schreibgerät aus Schilfrohr in den weichen Lehm geritzt.

Schreibgerät: Vom Schilfrohr zum Smartpen

Video: Die Kunst, einen Federkiel fürs Schreiben zu schneiden

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Die Kunst, einen Federkiel fürs Schreiben zu schneiden | Bild: Schulmuseum Friedrichshafen (via YouTube)

Die Kunst, einen Federkiel fürs Schreiben zu schneiden

Gedenken: Der Tag der Handschrift

Litografie: Unterschrift Johan Hancocks unter die amerikanische Unabhängigkeitserklärung | Bild: dpa-Bildfunk

Unterzeichnung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung

Der Tag der Handschrift ist ein Gedenktag - und war bei seiner Einführung 1977 eigentlich vor allem eine Werbekampagne. Gedacht wird am Tag der Handschrift dem Geburtstag von John Hancock am 23. Januar 1737.

Hancock, ein politischer Führer im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, unterzeichnete als Präsident des Kontinentalkongresses als erstes - vermutlich mit einem Federkiel - die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Seine markante und im Vergleich zu den anderen Unterzeichnern sehr große Signatur (13 Zentimeter) auf dem historischen Dokument zog in den USA ein bis heute gebräuchliches Sprichwort nach sich: "Please, put your John Hancock here!" meint "Bitte hier unterschrieben".

Die US-amerikanische Writing Instrument Association (WIMA) nahm gut 200 Jahre nach Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung den Geburtstag Hancocks zum Anlass, den Tag der Handschrift einzuführen, um die Bedeutung der Handschrift ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen - und damit nicht zuletzt die Werbetrommel für den Absatz von Schreibgeräten zu rühren.

Definition: Handschreiben lernen

"Durch die persönliche Schreibbewegung werden aus dem Strich die Buchstabenformen gestaltet und auf einer Fläche verteilt. Die Handschrift ist also die Auseinandersetzung der Schreibbewegung mit einem vorgegebenen Buchstabensystem, der Schreibvorlage, auf einer Fläche mit Hilfe einer Schreibspur, nämlich dem Strich."

Die Psychologin und Graphologin Maria Paul-Mengelberg (1914 - 2001) beschreibt, was jedes Kind in den ersten Schuljahren beim Schreibenlernen kennenlernt: die Auseinandersetzung mit Bewegung, Formgestaltung, Schreib-Raum und Strich. Bis zum Ende der vierten Klasse sollen ABC-Schützen eine lesbare und flüssige Handschrift entwickeln. So geben es die aktuellen Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz vor.

Studie: An der Handschrift führt im Unterricht kein Weg vorbei

Infografik: Einschätzung der Lehrer, wie wichtig das Erlernen der Handschrift ist | Bild: STEP 2019 | Grafik: BR

Pandemie: Probleme beim Schreibenlernen in der Schule

Handschrift: Grundschülerin schreibt mit der Hand | Bild: dpa-Bildfunk

Bedeutet die Digitalisierung den Untergang der Handschrift in der Schule? Oder ist das Schreiben mit dem Stift auf Papier ohnehin eine veraltete Kulturtechnik, die abgeschafft gehört? Viele Wissenschaftler und noch mehr Studien beschäftigen sich mit der Frage, wie, womit und mit welchem Ziel Kinder in der Schule schreiben lernen sollen - darunter die bundesweite Studie "STEP 2019" ("Studie über die Entwicklung, Probleme und Interventionen zum Thema Handschreiben") des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) und des Schreibmotorik-Instituts sowie der Faktencheck "Handschrift in der Digitalisierten Welt" des Mercator-Instituts. Dabei zeigte sich bereits vor der Pandemie, dass etwa die Hälfte der Jungen in Grund- und weiterführenden Schulen Probleme mit der Handschrift hatten.

Nach der Pandemie mussten die Lehrkräfte insbesondere in der Grundschule ihren Schützlingen vieles neu beibringen, denn die Kinder schrieben langsamer, unstrukturierter und noch unleserlicher. Nach dem Distanzunterricht habe man den Schülerinnen und Schülern erst wieder erklären müssen, dass "man vom linken bis zum rechten Rand schreibt und weder in der Mitte des Papiers anfängt noch über den rechten Rand hinausschreibt." So fasst eine Lehrkraft neu entstandene Defitzite aufgrund des Homeschoolings während der Pandemie in der Studie "STEP 2022" zusammen. Vielen Schulkindern tue demnach mit der Hand schreiben inzwischen weh und mache müde. Sie verkrampften schneller. Zugleich habe nicht einmal die Hälfte der Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen nach der Pandemie länger als eine halbe Stunde ohne Beschwerden schreiben können.

Nach Corona: Defizite beim Handschreiben haben Einfluss auf Bildungsbiografie

"Kinder und Jugendliche, die schon vorher Schreibschwierigkeiten hatten, wurden in der Pandemie weiter abgehängt. (...) Wir sehen dadurch eine ganze Reihe Probleme auf betroffene Kinder und Jugendliche zukommen. Handschreiben hat einen großen Einfluss auf den Lernprozess in Gänze und damit auf die gesamte Bildungsbiografie."

Udo Beckmann, Ehrenvorsitzender und bis 2022 Bundesvorsitzender Verband Bildung und Erziehung

Umfrage: nSchrifterwerb? Ausbaufähig!

Infografik: Zufriedenheit der Lehrer mit der Handschrift ihrer Schüler | Bild: STEPS 2022 | Grafik: BR

Nur etwa vier Prozent der Grundschul- und zwölf Prozent der Sekundar-Lehrkräfte sind laut der Studie "STEP 2022" mit der Handschrift der Kinder und Jugendlichen zufrieden. Jedoch attestierten mehr als die Hälfte aller befragten Lehrkräfte an weiterführenden Schulen ihren Schülern mangelhafte oder sogar ungenügende Schreibfähigkeiten. Im Durchschnitt vergaben alle Lehrkräfte die Schulnote 3 bis 4.

Was ist besser: Stift oder Tastatur?

Stift und Papier

  • Handbewegungen mit Stift auf Papier helfen, die Welt zu begreifen: beim Handschreiben wird die visuelle Gedächtnisspur von der motorischen Gedächtnisspur unterstützt
  • es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Form der Buchstaben und der ausgeführten Bewegung
  • es gibt Hinweise darauf, dass das Schreiben mit der Hand zu besseren Gedächtnisleistungen führt und sich positiv auf die Entwicklung feinmotorischer und kognitiver Fähigkeiten auswirkt 
  • wer mit Stift und Papier lernt, erkennt Buchstaben besser
  • visuell-räumliche Fähigkeiten werden stärker gefördert
  • per Hand verschriftlichter Inhalt wird durch das langsamere Handschreiben stärker durchdrungen, als wenn der gleiche Inhalt mit der Tastatur getippt wird
  • Studien weisen darauf hin, dass Handschrift durch die Verknüpfung von Lauten und Buchstaben dem Schriftspracherwerb stärker nützt
  • Handschrift ist ein ökonomischer Weg, mit geringem Aufwand Inhalte schnell zu fixieren
  • Handschrift ist Kulturtechnik und Ausdruck der Persönlichkeit, sie verändert sich über die gesamte Lebensspanne  

Tastatur und PC

  • Verwendung einer Tastatur ist für Kinder mit motorischen Defiziten von Vorteil
  • Lesen und Schreiben ganzer Wörter lernen Kinder, die mit Tastatur arbeiten, besser
  • Schreibenlernen mit Smartpen ist für Kinder schwieriger, da die rutschige Bildschirmoberfläche Aufmerksamkeit bindet
  • schwache Handschreiber können vom Tastaturschreiben profitieren
  • Nutzung von Tastaturen kann für die Strukturierung von Texten und die Textüberarbeitung sinnvoll sein
  • in Studien verfassten Schüler längere, sprachlich richtige und inhaltlich sinnvollere Texte, wenn sie mit Textverarbeitungsprogrammen am PC schrieben
  • Tastaturschreiben erleichtert Kindern die Konzentration auf den Inhalt, lässt sie besser in den Schreibprozess eintauchen
  • wenn es um schnelles Notieren geht, sind geübte Maschinenschreiber im Vorteil
  • Schreiben auf der Tastatur kann einen positiven Einfluss auf die Motivation der Kinder haben
  • die kompetente Nutzung digitaler Medien (auch im Zusammenhang mit Homeschooling) ist ein wichtiges Bildungsthema

Seit der Erfindung des Buchdrucks, spätestens aber seit der Entwicklung der Schreibmaschine, konkurriert die Handschrift mit mechanischen Techniken der Texterfassung. Sich grundsätzlich für Hand- oder für Tastaturschreiben zu entscheiden, ist aber weder im Alltag noch im Unterricht auf Dauer eine sinnvolle Option, sagen Bildungsexperten. Vielmehr sei es hilfreicher, wenn Lehrkräfte situationsabhängig wählen, welche Technik für die Lerngruppe und das Lernziel am zielführendsten ist.

Keine Alternative: Tinte und Tablet

"Auf Grundlage der bisherigen Forschungsergebnisse ergibt es keinen Sinn, das Handschreiben und Tastaturschreiben gegeneinander auszuspielen. Anstatt die Entweder-oder-Frage zu stellen sollten Lehrkräfte besser beide Techniken fördern und fordern."

Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Universität zu Köln, weist drauf hin, dass die meisten Lehrkräfte nach wie vor annehmen, dass das Schreiben mit der Hand mehr Vorteile für ihre Schüler mit sich bringt als das Tastaturschreiben. Laut des Faktenchecks 'Handschrift in der Digitalisierten Welt' des Mercator-Instituts ist das allerdings nicht bewiesen. Beide Techniken haben ihre Vorteile.

Schreibstil: Von der Kurrent- zur Ausgangsschrift

Schreibbeispiele zu den verschiedenen Schriftarten, die an Grundschulen gelehrt werden  | Bild: picture-alliance/ dpa-infografik | dpa-infografik

Über die Jahrhunderte wurden in Deutschland viele Wege beschritten, um Schülerinnen und Schülern das Schreiben mit der Hand beizubringen. Dabei unterscheiden sich im Laufe der Zeit nicht nur die Schriftarten, sondern auch die Lehrmethoden des Schrifterwerbs.

Die deutsche Kurrentschrift, die seit Beginn der Neuzeit bis ins 20. Jahrhunderts die allgemeine Verkehrsschrift im gesamten deutschen Sprachraum war, wurde von der Sütterlinschrift abgelöst. Diese wurde als sogenannte Ausgangsschrift, also als Schriftmuster, von Rudolf von Larisch und Ludwig Sütterlin in den Schulen eingeführt. Die Idee der Ausgangsschrift: Die Schüler sollen keine Ziel-Handschrift anstreben, sondern auf der Basis dieser Ausgangsschrift eine persönliche Handschrift entwickeln. Im Vordergrund stehen Lesbarkeit und Flüssigkeit, verbunden mit einem ästhetischen Erscheinungsbild.

1916 verfolgte der Schriftpädagoge Fritz Kuhlmann noch einen weiteren Ansatz: Die Schüler sollen eine individuelle Schreibschrift nicht aus einer Schreibschrift, sondern aus einer Druckschrift entwickeln. Der Ansatz bewährte sich damals nicht, er wurde aber 2011 unter dem Namen Grundschrift wiederbelebt und wird seither erneut erprobt.

Umfrage: Richtig oder schnell?

"Heute gehe es den meisten vor allem darum, dass die Kinder möglichst schnell eigene kreative Texte verfassen könnten. Schreiben nach Gehör, das heißt, die Arbeit mit der Anlauttabelle, ist diesbezüglich eine geeignete Methode. Die Kinder haben schnell Spaß am Schreiben und sind motiviert."

Sprachwissenschaftlerin Dr. Simone Jambor-Fahlen, Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache

Einen Grund für die aktuell vergleichsweise schlechte Schreibleistung deutscher Schülerinnen und Schüler sehen Experten in unterschiedlichen pädagogischen Strömungen. So habe bei Lehrkräften in den 1970er-Jahren die Rechtschreibung stärker im Fokus gestanden.

Schreiben: ...mit links!

Der amerikanische Präsident Barack Obama ist Linkshänder.  | Bild: picture alliance / abaca | Olivier Douliery

Ex-Präsident Barack Obama schreibt linkshändig - und ist damit in der Riege der US-Präsidenten nicht allein. Unter anderem George Bush und Bill Clinton gehören zu den "Lefties", ebenso wie andere Berühmtheiten, etwa Queen Elizabeth II., Paul McCartney oder Bill Gates. Auch der Blick in die Geschichte zeigt, dass viele Künstler, Dichter und Denker ihre Werke mit Links schufen, darunter Pablo Picasso, Johann Wolfgang von Goethe, Albert Einstein und Marie Curie.

Die Ursache der (nicht sehr weit verbreiteten) Linkshändigkeit ist nach wie vor ungeklärt. Eine internationale Studie ergab 2020, dass nur etwa zehn Prozent aller Menschen weltweit die linke Hand bevorzugen. Manche Wissenschaftler gehen von einer genetischen Disposition aus, obwohl bislang kein Gen gefunden werden konnte, dem die Händigkeit zugeschrieben werden kann. Andere Experten vermuten eine Dominanz der rechten Hirnseite.

Wird ein Linkshänder umtrainiert, was in Deutschland bis in die 1970er-Jahre üblich war, werden zwar beide Gehirn-Seiten gefordert, doch die motorische Kontrolle geht weiterhin von der rechten Hirnhälfte aus. Heute wird die "Umerziehung" als problematisch betrachtete, da sie feinmotorische Störungen oder gar Sprachprobleme wie das Stottern nach sich ziehen kann.

Autographe: Geheimer Zauber der Schrift

"Ich weiß, daß man mit der Handschrift eines Buches nicht nur schenkt, sondern auch einem ein Geheimnis verrät“, schrieb der Autor Stefan Zweig 1907 an seinen Dichterkollegen Rainer Maria Rilke. Zweig war leidenschaftlicher Sammler von eigenhändigen Niederschriften, sogenannter Autographe (griech. "autographos" = selbst geschrieben) berühmter Persönlichkeiten. Zweig besaß unter anderem Manuskripte von Martin Luther, Leonardo da Vinci und Kafka, Zeichnungen Goethes, einen Armeebefehl Napoleons sowie Notenblätter von Mozart, Schubert und Beethoven.

Damals wie heute werden Autographe vor allem von Antiquariaten gehandelt. Sammlungen von Autographen werden heute nicht nur in Datenbanken erfasst, sondern sind teilweise auch im Internet frei abrufbar. In Deutschland sind Handschriftenliebhaber in der Arbeitsgemeinschaft der Autographensammler e.V. organisiert.

 

Mehr Wissen: Quellen und Sendungen zum Thema Handschrift

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