Corona-Spätfolgen Post-Covid - Wenn ME/CFS dazukommt
Es gibt Berichte von Menschen, die nur leicht oder mittelschwer an Covid-19 erkrankt sind. Doch ihre Symptome sind auch Wochen und Monate nach dem Erstinfekt immer noch da, hinzu kommen eine Belastungsintoleranz und Fatigue.
Das "Chronische Fatigue Syndrom" oder ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom) ist eine relativ häufige Krankheit, die aber vielen Ärztinnen und Ärzten kaum bekannt ist. In der Coronapandemie hat die Zahl der Betroffenen stark zugenommen: "In den nächsten Jahren muss deshalb mit einer Verdopplung der Zahl der ME/CFS-Betroffenen gerechnet werden", so Carmen Scheibenbogen von der Charité in Berlin in einer Studie vom Juli 2022.
Fatigue betrifft vor allem junge Menschen, häufig Frauen unter 40 Jahren. Sie bekommen einen Infekt, zum Beispiel eine Grippe oder das Pfeiffersche Drüsenfieber, und werden einfach nicht mehr gesund. Jetzt wird klar: Das trifft auch auf Covid-19-Erkrankte zu, weil die Krankheit vor allem durch Viren ausgelöst wird. Dazu zählen auch Coronaviren.
Eine Studie vom Dezember 2021 zeigt das eindrücklich: Demnach hatten einer von drei Patienten bis zu 12 Wochen nach der Covid-19-Diagnose "Fatigue" und einer in fünf kognitive Einschränkungen.
Eine Untersuchung der Charité Berlin geht diesem Zusammenhang nach. Die Charité ist eines der wenigen Zentren, die zum Chronischen Erschöpfungssyndrom forschen und es auch behandeln. Die Studie wurde im August 2022 im Fachmagazin Nature veröffentlicht.
"Es hat uns nicht überrascht, weil wir schon seit Sommer 2020 erste Berichte gelesen haben, dass eine ganze Reihe von Patienten anhaltend an Fatigue leiden, aber auch an Belastungsintoleranz und kognitiven Störungen. Und das sind Symptome, die wir auch gut von ME/CFS kennen."
Prof. Carmen Scheibenbogen, Leiterin Immundefektambulanz, Charité Berlin
Die Hälfte der Long-Covid-Betroffenen hat auch ME/CFS
Für ihre Studie hat das Team um Carmen Scheibenbogen 42 Teilnehmende untersucht, 29 Frauen, 13 Männer, alle litten immer noch unter Beschwerden. Bei allen lag die Erstinfektion mit dem SARS-CoV-2-Erreger sechs Monate zurück. Dann wurden die Symptome von Chronischem Fatigue Syndrom erfasst, zum Beispiel "Fatigue", Belastungsintoleranz, kognitive Symptome wie Kopfschmerzen und Muskelschmerzen.
Dazu kommen verminderte Kraft, die zum Beispiel über den Händedruck erhoben wird, aber auch auffällige Blutwerte. Die meisten der Teilnehmenden waren durch Long-Covid in ihrem Alltag eingeschränkt.
Das Ergebnis der Studie: 19 der 42 Patientinnen und Patienten konnten nach dem strengen Kanadischen Konsens Kriterien-Modell mit ME/CFS diagnostiziert werden, also fast die Hälfte. Carmen Scheibenbogen nennt das dann "Chronisches Covid-19-Syndrom/CFS".
"Wir hatten befürchtet, dass SARS-CoV-2 ME/CFS auslösen kann, weil der SARS-CoV-1-Virus [von 2003, d.A.] hat das bei sehr vielen Patienten auch ausgelöst."
Prof. Carmen Scheibenbogen, Leiterin Immundefektambulanz, Charité Berlin
Auch andere Studien bestätigen diesen Zusammenhang und weisen darauf hin, dass mit einem Zuwachs an Betroffenen weltweit zu rechnen ist. Wie viele Menschen mit Covid-19 später tatsächlich betroffen sind, ist noch unklar, doch Studien rechnen mit mehr als 10 bis 20 Prozent. Carmen Scheibenbogen geht davon aus, dass 1 Prozent der Infizierten auch das Vollbild ME/CFS entwickeln. Bei 32 Millionen Menschen in ganz Deutschland, die sich bisher (Stand: September 2022) mit dem Sars-CoV-2-Erreger infiziert haben, macht das bis zu 300.000 Betroffene aus.
ME/CFS: Wenig bekannt, gut zu diagnostizieren
Das Chronische Fatigue Syndrom (ME/CFS) ist relativ unbekannt, vor allem, weil dazu erst seit wenigen Jahren international geforscht wird und es lange als "psychosomatisch" betrachtet wurde. Es gibt zum Beispiel keinen Bluttest, der eindeutig Krankheitsmarker bestimmen kann. Expertinnen wie Carmen Scheibenbogen können nur über eine sorgfältige Anamnese ME/CFS diagnostizieren.
Eines der Leitsymptome ist eine "Belastungsintoleranz" oder "postexertional malaise". Unter körperlicher oder geistiger Belastung kommen die Symptome zurück oder werden massiv verstärkt. Es kommt zu grippeähnlichen Symptomen, Kopfschmerzen, Herzrasen, leichtem Fieber, Halsschmerzen, aber auch zu Konzentrationsschwierigkeiten, "brain fog" oder einer bleiernen Erschöpfung.
Alltägliche Verrichtungen wie Duschen, Kochen oder einer leichten Arbeit nachgehen werden für diese Menschen unmöglich. In Deutschland allein schätzt man bis zu 300.000 Betroffene, viele sind arbeitsunfähig, können nicht in die Schule gehen oder sind sogar dauerhaft bettlägerig. Carmen Scheibenbogen rechnet damit, dass durch die Corona-Pandemie in den nächsten Jahren nochmal so viele Patienten dazu kommen werden.
Mehrere Faktoren lösen Post-Covid und ME/CFS aus
Weil seit Jahrzehnten versäumt wurde, postvirale Syndrome wie ME/CFS zu beforschen, ist bis heute im Detail unklar, wie es sich entwickelt. Dasselbe trifft auch auf Post-Covid zu. Momentan gehen die Forschenden von drei Mechanismen aus:
- Mikro-Blutgerinnsel, die zu Durchblutungsstörungen der kleinen Gefäße führen, darum werden Organe und Muskeln nicht mit genug Sauerstoff versorgt.
- Durch die Viruserkrankung entstehen spezielle Autoantikörper, die das Nervenssystem angreifen.
- Nach der Infektion bleiben Reste des Virus zurück im Körper und überreizen das Immunsystem.
Post-Covid und damit auch ME/CFS ist eine Autoimmunkrankheit, bei der darüber hinaus der Energiestoffwechsel der Körperzellen in Mitleidenschaft gezogen wird. Der starke Energieverlust hat auch Auswirkungen auf zahlreiche Systeme im Körper wie Blutdruck, Organe und das autonome Nervensystem. So können viele Betroffene ihren Blutdruck nicht mehr regulieren, wenn sie zum Beispiel vom Sitzen ins Stehen kommen.
Kaum Experten für ME/CFS in Deutschland
Die Versorgungslage für Patientinnen und Patienten mit Chronischer Fatigue ist schlecht, im ganzen Bundesgebiet gibt es nur eine einzige Spezialambulanz für Erwachsene, an der Charité in Berlin, die Immundefektambulanz. Dort können aber nur Betroffene aus Berlin und Brandenburg vorstellig werden zur Diagnose. Behandelt werden sie dort nicht. In München baut die Technische Universität gerade eine Ambulanz speziell für von ME/CFS-betroffene Kinder und Jugendliche auf.
"In unserer Fatigue-Sprechstunde sehen wir Patienten und Patientinnen bis 25 Jahre und erhalten zunehmend Anfragen mit Verdacht auf Long Covid. Einige der Patieninnen und Patienten erfüllen nach bestätigter oder vermuteter COVID-19 die klinischen Diagnosekriterien für die Diagnose ME/CFS."
Prof. Uta Behrends, TU München
Alle anderen Erkrankten sind momentan auf sich allein gestellt und es ist dem Zufall überlassen, ob sie an eine Ärztin oder einen Arzt geraten, die sich mit dem Krankheitsbild auskennen. Dasselbe Problem haben auch Betroffene mit dem Chronischen Covid-19-Syndrom/CFS.
"Viele sind nicht vertraut mit der Diagnose ME/CFS. Deswegen tun sich momentan auch viele schwer, diese Patienten richtig einzuordnen."
Prof. Carmen Scheibenbogen, Leiterin Immundefektambulanz, Charité Berlin
Falsche Behandlung von ME/CFS kann schwere Folgen haben
Das bedeutet für die Betroffenen, sie werden entweder gar nicht behandelt oder falsch, mit schwerwiegenden Folgen. Vielen zum Beispiel wird geraten, Sport zu treiben, eine Aktivität, die grundsätzlich bei vielen chronischen Krankheiten sinnvoll sein kann. Gerade die Belastungsintoleranz führt aber dazu, dass man mit kleinen Aktivitäten seine Energiereserven verbraucht und es zu einem Zusammenbruch kommt, der Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre andauern kann.
Die Leitlinien zu Post-COVID/Long-COVID raten daher, körperliche und mentale Überlasungen "zunächst zu vermeiden".
"Wir empfehlen den jungen Patientinnen und Patienten ein symptomorientiertes, multimodales, interdisziplinäres und intersektorales Behandlungskonzept. Zudem raten wir zu einem konsequentes Selbstmanagement mit Entspannungsübungen und sogenanntem 'Pacing'. Dabei geht es darum, mit den eigenen Energiereserven Schritt zu halten und so den Chrash nach Belastung zu vermeiden."
Prof. Uta Behrends, TU München
Immerhin ist durch Hashtags wie #Longcovid, #Langzeitcovid oder #Postcovid bei vielen ein Bewusstsein für diese spezielle Langzeitfolge von Covid-19 entstanden. Betroffene sind im Internet erstaunlich gut vernetzt und binden auch zunehmend die ME/CFS-Community mit ein, die schon seit Jahrzehnten um Anerkennung und adäquate Behandlung kämpft. Das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) hat im Februar 2021 damit begonnen, den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu ME/CFS zu erheben.
Erfolgreiche Heilversuche an der Uni Erlangen
Bis heute lässt sich ME/CFS nicht heilen. Im Sommer und Herbst 2021 aber kam es zu vier spektakulären und erfolgreichen Heilversuchen an der Uni Erlangen. Dabei entdeckten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eher zufällig, dass ein Herzmedikament Symptome wie Fatigue oder Brain fog bei Patienten lindern oder völlig zum Verschwinden bringen konnte.
Die Vermutung: Durch das Medikament werden spezielle Autoantikörper (Autoantikörper gegen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren) bekämpft, die sich im Zuge der Covid-19-Erkrankung gebildet haben und die die Durchblutung stören. Bekannt sind diese Autoantikörper vom Grünen Star, darum fiel dieser Zusammenhang auch an der Augenklinik auf. Jetzt soll diese Vermutung in einer klinischen Studie geklärt werden. Sollte sich der Zusammenhang aber bewahrheiten, wäre das das erste Medikament gegen Long Covid und möglicherweise auch gegen ME/CFS.
Diagnose von ME/CFS und Long Covid
Wichtig ist in jedem Fall eine gute Diagnostik. Erschöpfung allein kann auch von anderen Faktoren herrühren, zum Beispiel einer Herzmuskelentzündung. All das muss vor der Diagnose "Chronisches Covid-19-Syndrom/CFS" bzw. ME/CFS genau abgeklärt werden. Die Ausheilung der Covid-19-Erkrankung kann aber auf jeden Fall länger dauern als man das annehmen würde, so Carmen Scheibenbogen.
"Wenn man dann merkt, dass man diese Belastungsintoleranz hat, dann soll man das auch berücksichtigen. Das heißt, dann soll man eben im Moment keinen Sport machen, dann soll man auch körperliche Überlastung vermeiden. Vielleicht auch nur im Homeoffice oder auch nur noch Teilzeit arbeiten. Aber bei den allermeisten kommt es nach einigen Wochen und Monaten dann auch zur Ruhe."
Prof. Carmen Scheibenbogen, Leiterin Immundefektambulanz, Charité Berlin
Ob die Impfung bei einer Durchbruchsinfektion vor dem "Chronischen Covid-19-Syndrom/CFS" schützen kann, ist noch unklar. Eine noch unveröffentlichte Studie vom November 2021 lässt daran Zweifel aufkommen, doch eine Studie aus Israel vom Januar 2022, die im Fachmagazin Nature veröffentlicht wurde, zeigt: Geimpfte haben ein über die Hälfte so kleines Risiko für Kopfschmerzen, Fatigue und Muskelschmerzen.
Post-Vakzin-Syndrom
Rätsel gibt den Forschenden das sogenannte Post-Vakzin-Syndrom (Post-Vac-Syndrom) auf. Es ist schon länger bekannt, dass durch Impfungen (zum Beispiel die Grippeimpfung) in seltenen Fällen lang anhaltenden Beschwerden auftreten können, dessen Symptome ME/CFS sehr ähneln. Hier liegt die Vermutung nahe, dass die Impfung das Immunsystem stimuliert und das das dann überreagiert. Auch Autoantikörper könnten hier eine Rolle spielen. Doch auch das Post-Vac-Syndrom ist noch kaum erforscht.
Weiterführende Links zu ME/CFS:
- Langzeit-Covid, deutschsprachige Selbsthilfegruppe
- Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e.V., Selbsthilfegruppe
- Elterninitiative ME/CFS-kranke Kinder und Jugendliche, München, Selbsthilfegruppe
- Millions Missing Deutschland, Selbsthilfegruppe, die die "Millions-Missing" Aktion am 12.5. initiiert
- Fatigatio, Bundesverband Chronisches Erschöpfungssyndrom
- Selbsthilfegruppe Bündnis ME/CFS
- Verein ME/CFS-Schweiz
- Charité Post-Covid Fatigue Centrum Berlin
- Kinderpoliklinik des Klinikums Schwabing, TU München
- Infos zu ME/CFS auf der Seite der Neurologischen Praxis von Michael Stingl, Retz, Österreich
- Stanford Universität (englischsprachig)
- DePaul Universität (englischsprachig)
- Die rätselhafte Krankheit: Leben mit ME/CFS, Dokumentarfilm ARTE, Juli 2021